Svolvær, 13. September 2016

Mit einem Guide erkunden wir die Inselwelt der Vesterålen. Er ist um die Sechzig und hat ein ereignisreiches Leben hinter sich. In Harstadt aufgewachsen, studierte er Zahnmedizin in Hamburg und arbeitete in Harstadt als Zahnarzt, bis er aufgrund eines Motorradunfalls und einiger gelähmter Finger diese Arbeit aufgeben musste. Er reiste dann nach China und Indonesien und bildete sich in alternativer Medizin aus, für die er eine Praxis hier in Harstadt eröffnete. Doch aus welchen Gründen auch immer verlor er sein Geld und muss nun als Guide für Hurtigruten arbeiten. Die Leute hier nennen ihn den Globetrotter von Harstadt. Er liebt es, Geschichten zu erzählen und zu fabulieren. Ob alles stimmt oder nicht – was spielt es für eine Rolle? Es ist jedenfalls unterhaltsam. Wir erfahren einiges über den harten Winter, der von Oktober bis Mai dauert. Dann wird es plötzlich heiß und sofort ist der Sommer da; der Frühling wird übersprungen. Die dunklen Wintertage werden etwas leichter erträglich durch ein Hallenbad in einer Grotte, ein Aktivitätszentrum für Senioren, hervorragende Kindergärten und Schulen – in Norwegen verdienen Lehrer mehr als Ärzte, erzählt er. Doch sobald es etwas warm ist, zieht es die Menschen hinaus in Fjell: ausgerüstet mit Angel, Grillpfanne, Eimer fürs Beeren- und Pilzesammeln wird das Leben in der Wildnis der Vorfahren nachvollzogen. In seiner Seele ist der Norweger also noch immer ein wenig ein Wikinger. Unser Guide fährt jeden Tag mit seinem Ruderboot ins Meer, um sich einen Fisch fürs Abendessen zu fangen. Die Errungenschaften der Zivilisation werden gerne angenommen, aber mit etwas Geringschätzung: heutige Frauen, sagt unser Guide, müssen nur noch einige Knöpfe drücken, um die Hausarbeit zu erledigen, und wenn etwas kaputt ist, haben Sie schlechte Laune. Ruth protestiert verständlicherweise. Die Nordnorweger sind Optimisten, betont unser Guide, sonst würden sie den Winter nicht überstehen. „Die Pessimisten schicken wir in den Süden.“

Unser Guide führt uns zur Trondenes Kirke, wo uns der Pfarrer bereits erwartet, mit feierlich strenger Miene Psalmworte auf Englisch und Deutsch vorliest, mit uns ein Kirchenlied singt und sich dabei auf dem Klavier begleitet. Die Kirche hat zwei Meter dicke Wände. Außen wird sie von einer Mauer umgeben. Das lässt vermuten, dass die Christianisierung durchaus auch mit Gewalt verbunden war. Beeindruckend ist der gothische Altar, der aus Norddeutschland importiert und mit dem durch Stockfischverkauf eingenommenem Geld bezahlt wurde: jeder Fischer musste den zehnten Teil des Fangs der Kirche geben. Im angrenzenden Museum ist die Geschichte von der Steinzeit bis zur Gegenwart dokumentiert. Eine Bronzearbeit mit dem Porträt eines Wikingerkönigs zeugt von der Rau- und Wildheit der damaligen Menschen. Gegenstände des Alltags vermitteln ein Bild, wie sie unter diesen harten Bedingngen existieren konnten. Ausführlich wird auch die Zeit des II. Weltkrieges gezeigt. Hier war eines der größten Gefangenenlager der Deutschen. Hunderte starben. Ein altes BMW-Motorrad und die Adolf-Kanone, eine der größten Kanonen der Welt, erinnern an diese schreckliche Zeit.

Wir fahren dann über die Insel Hinnoya dem Gullesfjord entlang, eine fruchtbare Landschaft mit Kuhweiden und Gemüseanbau. Besonders aromatisch sollen die Erdbeeren schmecken, die in den Mitsommernächten 24 Stunden am Tag reifen können. Sieht das Land vom Schiff wie eine unbewohnbare Mondlandschaft aus, so offenbart es sich bei einem Landgang als Paradies für Menschen, die gerne viel Raum um sich haben.

Wieder auf dem Schiff fahren wir eine kurze Zeit und müssen dann in ein kleines Boot umsteigen, das uns zu einer Seeadler-Safari mitnimmt. Die majestätischen Vögel sitzen in den Felsen und beobachten das kleine Schiff. Sie wissen sehr wohl, dass die Mannschaft Fische ins Meer wirft, umkreisen uns und ergreifen im Sturzflug die leichte Beute. Sie werden von mehr Fotoapparaten verfolgt, als der Bundespräsident beim Staatsempfang. Dann schwingen sie sich wieder in die Luft und fressen auf einem der Felsen den Fisch. Doch genauso beeindruckend wie diese Vögel ist die Landschaft: der Trollfjord, in dessen klarem Wasser sich die Felsen so spiegeln, dass zwischen dem Stein und seinem Spiegelbild kaum ein Unterschied zu sehen ist, dann die spitzen Gipfel des Hochgebirges auf den Lofoten, die unvermittelt aus der Wasserlandschaft herausragen und von den Strahlen der Abendsonne umflutet werden. Diese Landschaft besitzt eine unwirkliche Schönheit. Wer sie erlebt, so befreit von menschlichen Einflüssen (einmal von unserem Boot abgesehen), wünscht sich, es hätte die Menschen nie gegeben. Aber wer würde dann diese Schöheit erkennen können?