Kassel, 1. September 2017

Alles kann heute Kunst sein, und manchmal ist eine kurze Reise eine Reise um die ganze Welt. – Wir haben einen Tag auf der Documenta verbracht, und uns ging es, wie vielen anderen wohl auch: Du stehst vor einem Ausstellungsstück und bist ratlos: Leere weiße Bilder, die seltsame Geräusche erzeugen, eine über zehn Meter lange Stickerei mit Bären, Rentieren und Menschen des Nordens, eine Videoinstallation mit singenden, orthodoxen Mönchen, eine andere mit der Vereidigung türkischer Soldaten zu einem martialisch-kitschigen Gedicht, ein riesiges Lagerregal mit Stacheldrahtrollen…

Es sind lauter Rätsel, die darauf warten gelöst zu werden – Rätsel, wie auch die Welt ein Rätsel ist. Doch diese Kunst will dir nicht, wie die Medien, eine schnelle Erklärung in Form einer Schlagzeile oder eines Tweeds liefern, sondern macht das Gegenteil, stellt dir Hürden und Widerstände in den Weg.

Wenn alles Kunst sein kann, wie das Josef Beuys sagte, was ist dann Kunst? Selbst das ist ein Rätsel.

Doch nicht alle Ausstellungsobjekte sind so schwierig zu erschließen. Der Tempel der verbotenen Bücher von Maria Minujin zum Beispiel erscheint auf den ersten Blick einfach schön: voller Helligkeit, transparent, klassische Proportionen – ein antiker Tempel als Pop-Art. Das Rätsel beginnt erst, wenn man ganz nah hingeht: Welche Bücher sind und waren irgendwo auf der Welt schon einmal verboten? Es sind unzählige! Was bedeutet also die Schönheit dieses Tempels? Es ist eine Schönheit, die auf Wahrheit beruht. Deshalb ist die Kunst schön, aber die Welt, die ja heute hauptsächlich eine Welt, die von Menschen gemacht und beherrscht wird, oft hässlich. Denn Wahrheit wird auf dieser Welt nicht gerne gehört und gelesen und deshalb häufig verboten.

Auch die Masken von Beau Dick sind auf den ersten Blick nur schön – und vor allem faszinierend: bunt, archetypische Formen, manchmal kubistisch mehrdimensional. Allerdings wären sie vor einigen Jahrzehnten nur im Völkerkundemuseum ausgestellt und nicht als Kunst ernst genommen worden. Ihr Schöpfer, Nachfahre einer Häuptlingsfamilie, kämpfte sein ganzes Leben darum, dass seine Kultur als gleichwertig mit unserer westlich-europäischen wahrgenommen wird. Wir Weißen haben über Jahrhunderte in beispielloser Arroganz diese Kunst als primitiv abgetan.

Eine Kalligraphie ist mit einem Tuch abgehängt, das man hochhalten muss, um lesen zu können: WHITE PEOPLE ARE GOD’S WAY OF SAYING I’M SORRY. Auch dies ein Rätsel – ein Rätsel, das mich als Weißen betroffen macht. Wenn wir schuld am Unglück dieser Welt sind, was sicherlich zu einem großen Teil richtig ist, wie können wir es gut machen?

Die Documenta-Besucher lassen sich mit Neugier auf das Abenteuer ein, die Kunst der Welt und damit auch die Welt in vielen Perspektiven, mit Innen- und Außenansichten, abstrakt und realistisch, phantastisch und in der Haltung des Dokumentierens zu erkunden. Sie alle haben wohl das Gefühl, dass man hier viel erfahren kann: wie schön, wie vielfältig, wie polyphon, wie gefährlich, wie grausam die Welt ist. Lösungen zeigt diese Kunst nur mit ihren Mitteln, indem sie nämlich aus ihrem Material ästhetisch Ansprechenden, Provozierendes, Faszinierendes gestaltet. Doch die Rätsel dieser Welt, die sie bewusst macht, müssen jeden Tag von Neuem von uns selbst gelöst werden.