Buchcover

Franzpeter Messmer

Der Venusmann

Roman, 414 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt 2015

Taschenbuch: 14,99 €, E-Book: 4,99 € (zur Verlagsseite)

 

Der Megastar des Barock – Carlo Farinelli

Seine Stimme war so himmlisch, deshalb hätschelte ihn die Kirche. Er war aber auch der Venusmann, deshalb verfolgte ihn die Inquisition – ein Verführer durch seinen Gesang, ein Verführer in der Verkörperung des Androgynen und Bisexuellen. Er liebte Männer und Frauen. Ihm lagen Primadonnen, Kardinäle, Königinnen und Könige zu Füßen.

Das Leben eines Popstars des Barock. Neapel, Venedig, Paris, Madrid – der mondänen Musikerkarriere zwischen Begierden und Intrigen ist ein überbordender biographischer Roman gewidmet.

(Vogue)

Messmer erzählt lebhaft, bietet ein durchaus buntes Bild barocken Lebens im 18. Jahrhundert, soweit es das höfische oder katholische ist.

(Baldur Bockhoff, Süddeutsche Zeitung)

Einen beliebigen historischen Kolportageroman wollte der praktizierende Musiker Messmer – er ist künstlerischer Leiter der Landshuter Hofmusiktage – gewiß nicht schreiben. So können die Leser im Verlauf der frei erfundenen Romanhandlung mit ihren zahlreichen Nebenfiguren und Nebenschauplätzen sich musikgeschichtlich immer sachkundig machen.

(Manfred Rieger, Deutsche Welle)

Messmer gelang es mit dem „Venusmann“, ein farbiges Gemälde der Welt der Kastraten zu schaffen, einen leicht lesbaren, phantasievoll ausgeschmückten und durchaus an einem Wochenende zu verschlingenden Roman, der nichtsdestotrotz sorgfältig recherchiert ist, zu schreiben.

(Eberhard Iro, Landshuter Zeitung)

 

 

Einige Buchausschnitte zum Hineinlesen:


Ouvertüre

„Es ist ein Skandal! Dieser verzärtelte Eunuch tänzelte, anstelle das da Capo seiner Arie sofort wieder aufzunehmen, von der Bühne herab und gab einer jungen Frau, die in der ersten Reihe saß, einen Kuß auf die Lippen, sprang dann elegant wieder auf seinen Platz zurück und sang die Arie zu Ende. Die Signorina lachte so entzückt, als ob sie schon in seinen Armen liegen würde. Ich habe es selbst von der hintersten Reihe aus beobachtet.“
Padre Ignatio war ein junger und eifriger Mönch, ein feuriger und unbestechlicher Kämpfer für Gott und die Kirche. Das schätzte der Generalinquisitor an ihm. Huldvoll legte er seine Hand auf Ignatios Kopf und lächelte:
„Nehmt es nicht so ernst, Padre. Ihr müßt lernen, daß der Mensch auch Unterhaltung und Freuden braucht.“
„Aber nicht eine so schamlose Zurschaustellung von Lust,“ entgegnete Ignatio aufgebracht.
Der beleibte Generalinquisitor war mehr den Freuden des Lebens als der Strenge, die sein Amt forderte, zugetan und erinnerte sich mit Vergnügen daran, wie er selbst Bernacchis Kuß erlebt hatte: auf seinem Schoß saß die niedliche Sängerin Carelli, er wollte ihr gerade spaßeshalber und schon etwas vom Champagner berauscht ein Glas Wein in den reichlich großen Ausschnitt gießen, als es plötzlich um ihn herum still wurde, er schon Angst hatte, man würde auf ihn blicken, und erleichtert feststellte, daß das Publikum wie gebannt zur Bühne hinabschaute.

Kastration

Er sah den Schatten des Dottore, der sich über seinen Bauch beugte, und die aufgeregten Arme der hin- und hereilenden Helfer. Da spürte er ein kaltes Etwas in seinen Sack eindringen und seine Hode herausreißen.
„Aufhören, habt Erbarmen.“
Sein Herz pochte, er richtete sich auf, seine Beine und Arme schlugen um sich, doch hundert Hände, so schien es ihm, drückten ihn nieder. Er heulte, schrie so entsetzlich und grell, daß es Riccardo nicht mehr aushielt, den Raum verließ, tränenüberströmt sich übergab. Ach, es war so grausam!
„Mutter, warum hast du mich verlassen?“
Erneut drang die Hohlsonde in seinen Sack und riß die zweite Hode heraus.
„Das ist unmenschlich. Ihr Menschenschinder, ihr Metzger, ihr Teufel!“
Sein Körper zitterte, die Augen waren tränenüberströmt, das Gesicht gefährlich blau.
„Au! Ich sterbe, mein Gott hilf mir!“
Bis ins Dorf hinunter drang sein Schrei, ja selbst in den Bauernhäusern war er zu hören und die Frauen bekreuzigten sich und flüsterten: „Der arme Junge, sie haben wieder einen geschlachtet.“
Carlo spürte zwischen den Beinen einen stechenden, unerträglichen Schmerz, fast so, als ob sein Herz herausgerissen worden wäre. Dann flimmerte es um seine Augen, und tiefe Nacht senkte sich über ihn.

Der Wettstreit

Endlich betrat er den Festsaal, gerade als sein Bruder zu einer unendlich langen Verzierung ansetzte, die er in einem Atemzug, fast 10 Minuten lang durchhielt. Die Töne reihten sich wie Perlen, wurden durch keine Pause unterbrochen, und selbst das Publikum schien den Atem anzuhalten. So perfekt und so ausdauernd hatte noch nie jemand gesungen. Die Zuhörer, in der vordersten Reihe der Kardinal Panfili, daneben mehrere andere Kardinäle, Bischöfe, Edelleute und deren Frauen, schrien laut: „Bravissimo, Farinelli“. Dann wurde es plötzlich ganz still, denn nun musizierten beide gemeinsam, ließen einen Ton anschwellen, jeder zeigte die Kraft seiner Lunge und versuchte den anderen an Brillanz und Lautstärke zu überbieten, führten gemeinsam ein Crescendo und einen Triller in Terzen aus, der so lange von ihnen gehalten wurde, bis sie erschöpft schienen. Der Trompeter hörte auf, glaubte er doch, sein Gegner wäre ebenso ermüdet wie er, und der Kampf müßte unentschieden enden. Doch da zeigte Farinelli mit einem Lächeln, daß er sich nur über ihn lustig gemacht hatte; plötzlich begann er, noch immer in demselben Atemzug, mit neuer Kraft, entfaltete und schmückte die Noten nicht nur mit Trillern, sondern führte die schnellsten und schwierigsten Verzierungen aus, die erst durch die Beifallsstürme unterbrochen wurden. Farinelli war der strahlende Held, seine Stimme bezwang selbst eine Trompete, die Königin der Instrumente. Die Menschen im Saal waren außer sich, warfen Blumen, Armbänder, Broschen, Siegelringe auf das Podium. Carlo stand in einem Regen aus Gold und Edelsteinen.

Bologna

Doch Carlo konnte sich an den Zwiebeln nicht satt sehen, dachte voller Sehnsucht an den Markt in Terlizzi zurück und sprang auf einen Wurststand zu, zeigte auf Mortadellen, kleine Hundger, Tavacwürte und Savonetten. Der Kaufmann packte sie diensteifrig ein, Carlo öffnete seine prächtige Geldkatze und bezahlte den Mann fürstlich. Dieser schlug das Kreuz und rief: «Jesus, Christus und Maria, ein Wunder ist geschehen!»
Mittlerweile hatte sich eine Menschentraube hinter Farinelli und Metastasio gebildet. Alle wollten den außergewöhnlichen Mann in seinen prächtigen Kleidern, mit seinem bartlosen Frauengesicht betrachten – und sie konnten ihn gut sehen! Denn Carlo hörte nicht auf zu wachsen. Er war jetzt 22 Jahre alt und wurde noch immer jedes Jahr größer. Schon jetzt wirkte es komisch, wenn er in einer Frauenrolle auftrat, überragte er doch fast um einen ganzen Kopf alle männlichen Sänger. Und so erging es ihm auch auf diesem Markt in Bologna. Die Bauern waren zumeist klein, von der Arbeit gebückt und verwachsen. Farinelli wirkte unter ihnen wie ein Riese. Die Marktweiber taten es dem Wursthändler nach, bekreuzigten sich und beteten ein Gebenedeit, seist du Maria oder ein Vater unser. Die Leute, die ganz in der Nähe von Carlo standen, knieten vor ihm nieder, als wäre er der Erlöser. Farinelli sprach mit ihnen freundlich, hörte sich ihre wegen des Dialekts kaum verständlichen Sorgen und Klagen an. Die einfachen Leuten überfielen ihn mit ihren Krankheiten, ihrer Armut, ihren Klagen über den Streit mit bösen, stets betrunkenen Ehemännern. Kinder mit einem gelähmten Bein, vom Krieg verstümmelte Soldaten, blinde Weiber, heimatlose Bettler in Lumpen umzingelten den Sänger in seinem blauen Seidengewand, seinen schnee-weißen Strümpfen, seinen glänzenden Lackschuhen.

Venedig

Da meldete der Diener die Ankunft des Kardinals Panfili, Farinelli schlüpfte schnell in einen Rock, den ihm ein Diener gebracht hatte, und sie alle knieten vor seiner Hoheit nieder und empfingen seinen Segen. Ignatio, der sich hinter einer der Säulen versteckt hatte, sah angewidert zu.
„Kinder, laßt euch nicht stören. Genießt diese Nacht, die uns allen im Gedächtnis bleiben wird: Farinelli hat heute Venedig erobert!“ Gestützt auf Carlo und Vittoria ließ sich der alte Mann mit den leuchtenden, jugendlichen Augen in die Nische mit der Venusstatue führen. Er trank Rotwein und aß salziges Gebäck. „Liebe ist das Höchste auf der Welt. Wenn ihr dabei Gottes Reinheit in euren Gedanken empfindet, heiligt dies jede Berührung eurer Körper. Dann wird die sinnliche Liebe zur heiligen Liebe, und diese wollen wir heute feiern.“ Er beugte sich in seinem Sofa etwas zurück und fügte mit weicher und leiser Stimme an Farinelli und Vittoria gerichtet hinzu: „Ich kann nur noch zuschauen. Macht mich glücklich.“
Vittoria verstand viel schneller als Carlo, was er wollte. Sie fuhr, als ob in der Zwischenzeit nichts passiert wäre, mit ihren Liebkosungen fort, wühlte sich mit ihrem Mund zu Carlos Brüsten voran, überhäufte seinen Hals mit Küssen, öffnete seinen Mieder, zog sich dabei gleichzeitig und unmerklich aus, endlich lagen sie umschlungen vor dem Kardinal.

London

Als Farinelli und Bailly die Tür öffneten, wurden sie von einer Menschentraube umringt. «Let’s see wether he’s a man or a wife.» Die Leute rissen Bailly beiseite, der nun erstmals seinen Humor verlor und ebenso wie sein angebeteter Jonathan Swift die ganze italienische Tollheit verwünschte, ergriffen mit vielen Armen Farinelli, der mit greller Stimme auf sie einschimpfte, dann in der Hoffnung, daß die Menschen wie einst in Bologna seinen Gesang für ein Wunder hielten und ihm den Weg freigeben würden, eine Arie anstimmte. Doch die Menge zog an seinen Kleidern, riß Stoffetzen, goldene Knöpfe, Bordüren, selbst seine wertvolle Halskette und seine Siegelringe vom Leib, ja auch seine Hose, sogar seine Unterhose, bis er nackt dastand. Mehrere kräftige Männer stemmten ihn nach oben, so daß jeder im Schein der Kutschenlaterne sehen konnte: «Er ist ein Mann. Aber was für einer.» Enttäuscht, daß sie keine Frau in Männerkleidern entdeckt hatten, und vor allem neugierig, endlich einen Kastraten nackt zu sehen, lachten sie laut und befreit auf und konnten sich nicht satt gucken. Carlo ließ es schweigend, vor Angst zitternd über sich ergehen. Er dachte nichts, hatte nur Angst und eine grenzenlose Scham. Noch vor einer Stunde war er wie ein Gott gefeiert worden und jetzt war er das Opferlamm der Menge.

Madrid

«Wir sind gut in der Zeit.» Scotti blickte auf seine Uhr, die ein viertel vor fünf anzeigte. «In fast einer Stunde, um sechs beginnt das Mittagessen.» Carlo mußte lachen. Er fand die Zeiteinteilung des spanischen Hofes höchst komisch. «Ihr werdet euch daran gewöhnen. Bald werdet ihr es nicht mehr verrückt finden, am Abend Mittag zu essen, vielmehr werdet ihr eure früheren Gewohnheiten für absonderlich halten. So ist das. Im Grunde sind alle, die am Hof leben, etwas verrückt, und es wäre mir das größte Vergnügen, euch in demselben Zustand zu wissen. Macht euch frisch und zieht eure besten Gewänder an. Wenn ihr allerdings angenommen haben solltet, daß ihr essen werdet, so habt ihr euch getäuscht. Beim Mittagessen ißt die königliche Familie, aber die Gesandten und die Besucher unterliegen der unerbittlichen Etikette und absolvieren ihre Honneurs. Jedes Mitglied der königlichen Familie speist nämlich in einen anderen Zimmer, und ihr müßt von Zimmer zu Zimmer gehen und ihnen aufwarten. Ich werde euch begleiten. Bis später.»