Komplizierte Anreise

3. Mai 2025

 

Unser erstes Ziel ist Lincoln. Ganz schön kompliziert von München aus: Bus nach Memmingen, Flug nach Stansted, dann mit dem Bus nach Cambridge, mit dem Zug weiter nach Peterborough und von dort nach Newark Northgate, wo uns J. und T., unsere Freunde, erwarten. Aber alles hat bestens geklappt. Das Flugzeug holte die Verspätung ein. Die Koffer kamen schnell auf dem Fließband an, und anstelle des überfüllten Buses erschien kurz nach dessen Abfahrt ein Ersatzbus, der halbleer uns nach Cambridge brachte. Dort war gerade Rush-Hour, weshalb uns der Busfahrer riet, auszusteigen und zum Bahnhof zu Fuß zu gehen. Er meinte, es wäre sehr nah. Aber wir schoben unsere Koffer dann doch ein gutes Stück weit. Da wir eine Stunde Zeit bis zur Abfahrt des Zuges hatten, genossen wir die Abendsonne im Außenbereich der Old Ticket Office, einem gemütlichen Pub, tranken Guinness und aßen einen Sandwich voller Freude, dass wir draußen sitzen konnten, während es in Deutschland regnete. Die andere positive Überraschung war: Die Züge fuhren alle pünktlich. Bei uns zu Hause wäre man bei dreimal Umsteigen sicherlich irgendwo hängen geblieben.

In Newark on-Trent war unsere Zugreise endlich vorbei. Wir gingen hinauf auf die Brücke, die über die Geleise führte, und hörten von unten ein fröhliches huju. J. und T. winkten uns zu. Wir fuhren mit dem Lift zu ihnen hinunter und umarmten uns voller Freude. Nach sieben Jahren sahen wir uns endlich wieder. J. kenne ich schon fast mein ganzes Leben lang. Sie kam als Austauschschülerin zu meinen Eltern, als ich zwölf war. Seitdem sind wir so gut wie Schwester und Bruder zueinander.

Graffiti in The Old Hall of Gainsborough

4. Mai 2025

 

Englische Gastfreundschaft: Um acht klopft J. an unserer Schlafzimmertür und bringt den Early Morning Tea ans Bett, der uns wärmt und aufweckt. Das Frühstück ist gesund: zuckerfreies Müsli, eine große Auswahl an Nüssen, Erd- und Blaubeeren, dann Toast mit T.s herrlichen selbstgemachten Marmeladen.

Die beiden haben uns zu einer Fahrt nach Gainsborough eingeladen. Heute steht dort die Old Hall mit verschiedensten Führungen und Vorträgen im Mittelpunkt. Ein Herrenhaus aus dem 15. Jahrhundert mit einer wechselvollen Geschichte: 1460 erbaut von Sir Thomas Burgh, der auch für Gainsborough ein Armenhaus errichtete. 1470 wegen eines Streits über Ländereien von Sir Robert Welles und seinen Leuten angegriffen und beschädigt. Der Sohn von Thomas Burgh, Edward, wurde für wahnsinnig erklärt und hier gefangen gehalten. Ein späterer Nachfahre heiratete Chatherine Parr, die nach seinem Tod die sechste Gattin von Heinrich VIII. wurde. Der König hatte die Old Hall 1541 mit seinere fünften Gatinn Chatherine Howard besucht, die ein Jahr später wegen einer Affäre hingerichtet wurde. Doch Catherine Parr überlebte ihn… Da der letzte Burgh kinderlos starb, erwarb der Kaufmann William Hickman das Herrenhaus, das er renovierte und ausbaute. Die Hickmans unterstützten die Baptisten, die allerdings 1608 nach Holland fliegen mussten. Doch die Hickmans unterstützen weiterhin charismatische Prediger: Ungefähr 150 Jahre später lud Sir Neville Hickman den Erweckungsprediger John Wesley mehrmals ein, der am Lincoln College in Oxford lehrte und später in Amerika die Methodisten gründete.

Die Old Hall ist ein Holzfachwerkbau von imposanter Größe. Erstaunlich die Dimensionen der Küche: zwei offene Kamine, an denen man jeweils einen ganzen Ochsten braten konnte, außerdem ein Brotbackofen am dritten Kamin. Dies lässt darauf schließen, dass die Burghs und Hickmans nicht schlecht lebten.

Der Tourguide Rick Berry führt uns auf eine Entdeckungstour der besonderen Art: Er zeigt uns in den Verputz eingeritzte „Hexenzeichen“, Graffiti, die Hunderte von Jahren alt sind: Blütenblätter, sogenannte Gänseblümchenräder, mit denen man Dämonen einfing. Pentagramme gegen das Böse. Markierungen mit den Buchstaben Ms, als Zeichen für Maria, die um Schutz gebeten wurde. Der verkehrt geschriebene Name von Hickman, ein Fluch gegen den skrupellosen Geschäftsmann. Dunkle, verkohlte Flecken, sogenannte Brandflecken als Schutz vor Feuer.

So erzählen die Wände der Old Hall Geschichten aus den vergangenen Jahrhunderten über Magie, Religion, Reichtum und Macht.

Am Abend verwöhnt uns T. mit einem großartigen Dinner, einem zarten, auf den Punkt medium gebratenes Lamm. Nicht nur die Herren der Old Hall lebten in England sehr gut.

 

Vielfältige Begegnungen mit der Vergangenheit: die Kathedrale und das Castle von Lincoln

5. Mai 2025

 

Schon von weitem sieht man die Kathedrale von Lincoln. Wer ihr näher kommt, staunt über ihre Größe. T und J. haben für uns heute ein ausführliches Programm zusammengestellt, weshalb wir relativ früh aufstehen. T. war Guide in der Kathedrale und kennt so gut wie jeden Stein. Doch während der Coronazeit, als einige Kollegen sich ansteckten und starben, quittierte er das Ehrenamt. Aber seine Begeisterung für dieses wunderbare Zeugnis mittelalterlicher Architektur ist bis heute geblieben.

Auf dem Hinweg zur Kathedrale gehen wir am Wohnhaus des Bischofs vorbei und betreten schließlich den Minster Yard vor der Kathedrale. T. zeigt uns den Teil der Fassade, der noch aus der normannischen Zeit stammt. Wilhelm, der Eroberer, gab dieses riesige Gebäude 1067, ein Jahr nach der Eroberung Englands, in Auftrag, das nur so groß gebaut werden konnte, da Lincoln eine reiche Stadt war: hier lebten etwa 8000 Nachfahren der Wikinger und trieben regen Handel. Doch die normannische Kathedrale wurde das Opfer eines Brandes und musste 1139 wieder aufgebaut werden. Ein knappes halbes Jahrhundert später zerstörte sie ein Erdbeben. Immerhin blieben Teile der Westfassade und der Türme erhalten. 1192-1235 wurde die Kathedrale auf den Überresten der normannischen Architektur neu erbaut, nun im gotischen Stil. Außerdem wurde sie viel größer angelegt: breiter, länger und höher.

T. hat für uns eine Führung auf das Dach gebucht. Die temperamentvolle und Begeisterug weckende Fremdenführerin steigt mit uns in einem der Türme die Treppen hinauf und öffnet dann die Türe zum Dachstuhl, wo wir das Innenleben dieser Kirche bestaunen können: tonnenschweren Balken, eine mächtige Konstruktion, um diese Steinmassen zusammen zu halten. Draußen auf dem Dach blicken wir zu den Türmen hinauf und hinaus ins weite Land. Beim Hinuntergehen sehen wir ins Kirchenschiff von oben mit den vielen sich überkreuzenden Bögen, mit der filigranen Gestaltung des Steins, die ihm seine Schwere nimmt und eine außerordentliche Leichtigkeit vermittelt. In der Kirche sind Tische für ein Dinner eingedeckt, das abends stattfinden wird. Die Kathedrale, die sich selbst finanzieren muss, lässt das Leben herein: Konzerte, Bankette, Feiern aller Art können hier durchgeführt werden. Sie ist damit auch heute noch, was sie schon immer war: ein öffentlicher Versammlungsort.

Anschließend gehen wir hinüber zum Schloss.  Als erstes bewundern wir die Magna Charta, von der eines der drei Originale im Lincoln Castle ausgestellt ist. Englische Geschichte ist voller Grausamkeiten, aber auch Lichtblicke; denn die Magna Charta, die vordergründig das Zusammenleben von Adel und Fürsten regelte, ist das erste Dokument für Menschenrechte und Demokratie.

Dann machen wir einen Rundgang auf der Burgmauer mit vielen Ausblicken auf das alte Lincoln und in die weite Landschaft. Beeindruckend ist das Gefängnis, das wir von der Mauer aus von oben mit seinem kleinen engen Hof sehen, wo die Gefangenen einmal am Tag sich bewegen durften. Das Innere des Gefängnisses kann auch besichtigt werden und genießt besondere Aufmerksamkeit, da es auch in der Fernsehserie Downton Abbey eine Rolle spielt. Mr. Bates Gefängnisaufenthalt wurde hier gedreht. Das Gefängnis von Lincoln folgte der viktorianischen Auffassung, dass Kriminelle isoliert werden müssten, was hier mit aller Konsequenz geschah. Sogar in der Gefängniskapelle ist jeder Gefangene vom anderen durch Holzbretter abgetrennt und kann nur hinauf zum Pastor klicken. T. macht sich einen Spaß, als Pastor auf die Kanzel zu treten und auf uns in unseren kleinen Abteilen hinunterzublicken – Geschichte hautnah und mit Ironie.

Abends genießen wir J.s Pilz- und Hühner-Pie, eine kulinarische Köstlichkeit, welche die Vorurteile gegen englische Küche vollkommen widerlegt. Im Fernsehen sehen wir die Feierlichkeiten zum 80-jährigen Waffenstillstand des Zweiten Weltkriegs. Wie irrsinnig sind Kriege: jetzt genießen wir in England herzlichste Gastfreundschaft, damals mussten sich Deutsche und Engländer gegenseitig umbringen. Als meine Eltern J. vor etwa fünfzig Jahren einluden, war das für sie ein wichtiger Schritt zur Versöhnung nach dem Weltkrieg, den sie erleben mussten.

 

Ankunft in Edinburgh

6. Mai 2025

 

Unser Hotel in Edinburgh liegt in einem ruhigen Viertel mit viel Grün und schönen Gärten. Vom Fenster aus sehen wir Arthurs Seat, Edinburghs Berg. Abends finden wir mit Hilfe von Google Maps The Old Bell, einem traditionellen Pub. Außen ein buntes Wirtshausschild, Blumentöpfe schmücken die Fassade, braune Fensterläden aus Holz und Fenster mit Holzsprossen. Innen sehr gemütlich, wohnzimmerartig eingerichtet mit einer großen Bar, stimmungsvoll angeleuchtet: Whisky- und Ginflaschen leuchten mit ihren bunten Etiketten hervor. Zapfhähne aus Kupfer bieten eine große Auswahl an Bieren. R. bestellt Fish and Chips, ich Haggis, das schottische Nationalgericht. Es gibt den Witz, dass die Schotten vom Schaf alles Fleisch verkaufen und den Abfall selbst essen, nämlich die Eingeweide, die durch einen Fleischwolf gedreht, hier in The Old Bell recht scharf und pfeffrig gewürzt auf Kartoffelbrei bestens munden. Dazu ein etwas nach Zitrone schmeckendes Lager – was könnte es Besseres geben? Selbstverständlich muss noch mit Whisky nachgespült werden. Ich bestelle einen rauchigen, R. einen milden aus dem Sherry Fass. Der erste Abend in Edinburgh war ein guter Anfang.

The Old Town und viele, teils schaurige Geschichten

7. Mai 2025

 

Das Frühstück in unserem Hotel ist vorzüglich. Es gibt fünf verschiedene Eierspeisen, die alle von der Chefin persönlich frisch hergerichtet werden. Und der Chef bedient, ein überaus freundlicher und herzlicher Mann, der besonders begeistert ist, als ich zweimal hintereinander das schottische Frühstück mit allem (Haggis, Spiegelei, Speck Würstchen, Pilze und Tomaten) bestelle: „You will be strong this day.“

Auch in Edinburgh funktioniert der öffentliche Nahverkehr ausgezeichnet. Der Bus bringt uns zur Royal Mile. Wir schlendern diese zentrale Straße in the Old Town hinauf, hören Dudelsackspielern zu und schauen in die Schaufenster der zumeist sehr touristischen Geschäfte hinein. Dann setzten wir uns in die Kathedrale St. Giles, in der gerade ein Chor probt. Der Mesner gestaltet akribisch den Blumenschmuck an einer Säule. Wir lassen auf uns das Kirchenschiff mit seinen dicken und gedrungen wirkenden Mauern und dem filigranen, gotischen Gewölbe wirken und überlegen, was diese Steine alles erlebt haben, seitdem die Kirche 1120 erbaut wurde.

Kurz vor zwei suchen wir zunächst vergeblich unseren Guide. Wir hatten eigentlich erwartet, uns einer großen Gruppe anschließen zu müssen und sind erstaunt, als unser Stadtführer mit etwas Verspätung und mit seinem weißen Regenschirm auf sich aufmerksam macht, dass wir beide seine einzigen Gäste sind. Er ist ein schlanker Mittfünfziger, traditionell schottisch in einem Tweed Sakko und mit einem langen, um den Hals gebundenen Schal gekleidet. Mit seinen langen, etwas dürren Beinen wirkt er ein wenig wie eine Spitzweggestalt. Er erzählt uns viele Geschichten aus Edinburghs Vergangenheit: Von dem Reformator John Knox, der hier ein hervorragendes Bildungswesen installierte, aber ein Frauenverächter war. Von dem Feuerwehrmann James Braidwood, der nicht nur hier in Edinburgh sondern auch in London die moderne Feuerbekämpfung einführte, selbst immer in vorderster Linie gegen die Brände kämpfte und beim großen Feuer in London 1861 umkam. Unser Guide meint, dass er zu Unrecht fast vergessen ist und will eine Biografie über ihn schreiben. Ich bestärke ihn. Immerhin war mein Großvater auch Feuerwehrmann. Unser Stadtführer erzählt vom ältesten Haus hier in der Altstadt, in dem möglicherweise John Knox wohnte und das ein wenig aus der Häuserfront herausragt. Wir stehen unter der Statue des Philosophen Adam Smith, der das Urbild des zerstreuten Professors war. Am eindrucksvollsten ist, was unser Guide über die Lebensumstände in The Old Town berichtet: die Häuser waren fast so hoch wie Wolkenkratzer; denn über den jetzt noch vorhandenen vier Stockwerken aus Stein gab es noch weitere vier aus Holz. Die Häuser waren also acht Stockwerke hoch. In ihnen gab es wieder Wasser noch Toiletten. Die Exkremente durften nachts zu Beginn der Sperrstunde, wenn die oft betrunkenen Männer aus den Pubs heimgingen, auf die Straße hinuntergeworfen werden. Die Gassen mussten ziemlich unappetitlich gewesen sein. Fließendes Wasser gab es auch nicht. Das musste man vom großen Brunnen beim Grassmarket Square selbst holen. Bis ins 18. Jahrhundert gab es in Edinburgh noch die Hexenverfolgung. Frauen, die die Brunnenpumpe mit der linken Hand bedienten, wurden als Hexen verdächtigt. Unser Guide erzählte noch viele weitere grausame Geschichten. Etwa vom Friedhof, dem Greyfriars Kirkyard, in dessen Nähe die Anatomie lag. In Edinburgh durften schon seit 1726 anatomische Untersuchungen durchgeführt werden, was anderswo in Europa noch vielfach verboten war. Die Leichen wurden oft kurz nach der Beerdigung nachts wieder ausgegraben und in die Anatomie gebracht. Je frischer die Leiche war, umso mehr Geld erhielten die Grabräuber. Zum Schutz vor Grabschändern wurde über neue Gräber ein geschmiedetes Gitter angebracht, so dass es nicht mehr so leicht möglich war, die Leichen auszugraben. Doch noch viel schlimmer waren die West-Port-Morde: William Burke und William Hare töteten 16 Menschen und verkauften deren Leichen an die Anatomie. Zumeist luden sie ihre Opfer in ein Pub ein und füllten sie mit Whisky ab. Dann töteten sie sie so, dass keine Hinweise auf einen Mord erkannt werden konnten. Die Methode heißt nach ihrem Erfinder „Burking“ und zielt darauf ab, dass das Opfer erstickt. – Grausames Edinburgh.

Da wir Hunger hatten, gingen wir auf Empfehlung unseres Stadtführers ins Berties Proper, bestellen Fish & Chips, die zwar gut, aber nicht so gut wie in The Old Bell waren.

The New Town – das Castle von Edinburgh

8. Mai 2025

R. hat ein Loch in ihrer Hose und benötigt zum Zunähen eine Nadel. So suchen wir heute nicht die Nadel im Heuhaufen sondern in Edinburgh. Der Bus bringt uns in The New Town. Wir steigen in der Nähe des Walter Scott Denkmals aus, das sehr imposant wirkt: da wurde einem Dichter ein riesiges Monument gesetzt; er wird sitzend dargestellt und wirkt in der großen, neogotischen, einer Kapelle nach empfundenen Architektur etwas verloren. Der Dichter als Held! Er hat Schottland für die Welt wieder entdeckt, hat schottisches Nationalbewusstsein für die moderne Zeit im 19. Jahrhundert geformt und deshalb wird er hier mehr geehrt als Feldherren oder Staatsmänner, was sehr sympathisch ist. Gleich daneben befindet sich Marks & Spencer, wo wir keine Nadel finden. Wir werden zu einem Laden oben in der George Street geschickt, der freilich alles hat nur keine Nähsachen. Aber immerhin lernen wir so die New Town kennen mit ihren Häusern im viktorianischen Stil, ihren breiten Straßen und ihrer großzügigen Gesamtanlage. Damals zogen die Reichen und Begüterten in die New Town, während die Altstadt mit ihren unzureichenden sanitären Anlagen zu einer Art Slum verkam. Schließlich gibt uns eine Chinesin in eine Boutique den richtigen Tipp, nämlich in der nahen Einkaufspassage zu suchen, wo wir tatsächlich ein Geschäft finden, in dem es eine riesige Auswahl an Nadeln und Fäden gibt.

Danach gingen wir wieder hinunter zum Scott Denkmal, durchqueren den Park rund um die Altstadt, der früher mit Wasser zu deren Schutz vor Angriffen gefüllt war. Im Café der Nationalgalerie trinken wir auf der Terrasse einen Kaffee und holen uns fast einen Sonnenbrand.

Danach steigen wir die vielen Treppen hinauf zur Altstadt und gehen ins Writers Museum. Der Eintritt ist frei wie in den meisten Museen von Edinburgh. Dieses Museum ist schon als Gebäude sehr interessant. Es ist zwar nicht original aus dem 17. Jahrhundert, aber stilvoll renoviert. Die Zimmer sind klein, die Treppen eng und es gibt viele Stockwerke. Das oberste ist Robert Burns gewidmet, das mittlere Sir Walter Scott, das untere Robert Louis Stevenson. Dieses Gebäude lässt die Zeit von Dr. Jekyll und Mr. Hyde gegenwärtig werden.

Danach gehen wir hinauf auf die Burg. Unser Zeit-Slot beginnt um 14:00 Uhr. Wir sind etwas zu früh da und beobachten Touristen, die vor ihren Handys für Instagram-Fotos posieren und Bauarbeiter, die mit einem riesigen Kran die Infrastruktur für Open-Air-Veranstaltungen aufbauen.

Die Burg beherbergt zahlreiche Museen vor allem auch der schottischen Militärgeschichte, die Kapelle der St. Margaret und viele Kanonen, darunter die riesige Mons Meg. Großartig ist die Aussicht auf Edinburgh, das Meer, den Firth of Forth und zu Arthurs Seat.

Abends genießen wir ein letztes Mal Fish & Chips in The Old Bell.

Nördliches Arkadien: Mull

9. bis 16. Mai 2025

Eigentlich wollen wir vom Hotel zur Leihstation für den Mietwagen ein Taxi nehmen. Doch der Seniorchef des Hotels, ein wahrer Schotte, überredet uns, den Bus zu nehmen. Ein Taxi wäre viel zu teuer und die Busverbindung bestens. Und das Gepäck? „Man muss die Koffer immer nur ein paar Meter schieben.“ Im Übrigen liebt er deutsches Bier, kennt sogar das Münchner Hofbräu. Ich muss ihm einige bayerische Biere empfehlen und sage begeistert, dass mir das schottische Bier mindestens ebenso gut, wenn nicht sogar besser schmeckt. Doch dass R. dann auch Guinness nennt, ist ein Eigentor, denn Guinness ist ja irisch. Leider funktioniert das sonst so hervorragende Nahverkehrssystem in Edinburgh gerade nun, als wir mit unseren Koffern dastehen, nicht. Der Bus Nummer Nr. 14 fährt einfach an uns vorbei. Wir müssen über 20 Minuten lang auf den nächsten warten und hoffen, dass dieser nicht wieder an uns vorbeifährt. Wir winken so auffällig, dass er anhält.

Schon bald sitzen wir in einem Automatik-Seat und fahren in die Highlands, eine eindrucksvolle Landschaft, ziemlich dünn besiedelt, Berge kahl, ohne Wälder, tiefblaue Seen.

Zwei Stunden vor der Abfahrt unserer Fähre erreichen wir Oban, essen dort einen Krabben-Sandwich und kaufen das nötigste für unser Ferienhaus ein. Die Fahrt mit dem Schiff hinaus aus der Bucht von Oban – wir sehen McCaig’s Tower, ein dem römischen Kolosseum nachempfundenes Gebäude eines reichen, aber später bankrotten Bürgers von Oban, die immer kleiner werdenden Häuser der Stadt, viele unbewohnte Inseln – hinüber nach Mull bringt uns hinweg aus dem Alltag und aus menschlichen Getriebe in eine ganz andere Welt. Das Duart Castle im Gegenlicht: glitzerndes Wasser, hohe Berge und eine einsame Burg. Keine anderen Häuser, keine Stadt, kein Dorf. Scheinbar menschenleer. Als ob wir zurück im Mittelalter wären.

Mull ist dem von uns oft erträumten Naturzustand ziemlich nahe, wo Mensch und Tier friedlich zusammenleben. Kurz hinter Craignure verengt sich die Straße zu einem Single Trail, eine Art Feldweg. Man kann an einem entgegenkommenden Fahrzeug nur vorbeikommen, wenn man eine Ausweichbucht erreicht. Solche Buchten gibt es manchmal alle 300 m, manchmal auch erst nach einem Kilometer. Die meisten Autofahrer sind rücksichtsvoll. Sie warten in einer solchen Bucht sofort, wenn sie einen sehen. Wenn man dann höflicherweise ebenso in eine Bucht hineinfährt, warten beide und keiner kommt. So pirscht man sich langsam aneinander heran. Nach dem Ausweichmanöver grüßt man mit der Hand. Bei starkem Verkehr kann das ständige Handhochheben etwas anstrengend sein. Doch die Busfahrer sind nicht so rücksichtsvoll. Der erste Bus, dem ich begegne, lässt mir keine andere Wahl: Ich muss in den tiefen Graben hinunterfahren. Einheimische wollen zumeist schneller als wir Touristen vorankommen. Sie sind dankbar, wenn man sie bei einer Ausweichbucht überholen lässt. So fahren wir in Richtung Loch Beg, wo unser Ferienhaus liegt. Auf den letzten Meilen wird die Straße noch enger. Schafe mit ihren oft erst wenige Tage alten Lämmern stehen häufig mitten auf dem Weg. Was in Indien die heiligen Kühe sind, sind hier die Schafe: Die Autofahrer müssen Rücksicht nehmen. Heute nach der langen Fahrt bin ich etwas ungeduldig. Deshalb ist es gut, dass wir bald unser Ferienhaus erreichen. Doch in der folgenden Woche liebe ich diese Entschleunigung, genieße bei langsamem Fahren die herrliche Landschaft und nehme gerne Rücksicht auf die Tiere.

Unser Ferienhaus, The Old Post Office, liegt neben einem Friedhof, inmitten von Schafweiden und bietet einem wunderbaren Blick auf die Bucht und das tiefblaue Meer. Das Haus ist gemütlich und wir schlafen gut. Doch morgens um fünf weckt uns ein Konzert von Vogelgezwitscher, Schafblöcken und Fasanen-Gekreische. So viel Natur kann ganz schön anstrengend sein.

 

Tobermory: ein mediterraner Tag im Norden

12. Mai 2025

Um nach Tobermory zu kommen, müssen wir ganz hinauf in den Norden der Insel fahren. 26 Meilen auf Single Trails, das ist weit. Aber umso mehr belohnt uns die fantastische Landschaft: hohe Berge mit Schafen, ein steiler Pass hinunter zur Meerbucht, mit dem Blick auf die Inseln Inch Kenneth und Eorsa, ein Naturstrand mit Zelt- und Wohnmobilurlaubern, die mit großen Teleobjektiven und Ferngläsern nach Seeadlern am Ben More, dem höchsten Berg der Insel, und nach Delphinen, Walen und Seeottern im Meer Ausschau halten. Ein in der Talsenke zwischen Knock und Gruline vor Stürmen geschütztes Wäldchen. Dann auf der anderen Seite der Insel wieder die Küste mit dem Blick auf das Festland.

Tobermory ist berühmt für seine farbigen Häuser in blau, gelb und rot. Wir müssen einige Zeit warten, bis ein Parkplatz frei wird. Dann spazieren wir durch den Ort mit seinen vielen kleinen Geschäften, finden ein Kaffee, das Cream o‘ Galloway verkauft, ein vorzügliches Bio-Eis. F. arbeitete vor einigen Jahren auf dieser Farm, ein Grund mehr, einige Kugeln zu genießen. In einem Antiquitätengeschäft suchen wir nach Egg Cottlers aus Porzellan. Der Antiquitätenhändler mit seiner kehlkopfkrebsartigen Stimme fordert uns auf, die Rucksäcke abzulegen, damit wir nichts beschädigen. Es sucht lange nach Egg Cottlers, sagt, er hätte gerade vor zwei Tagen einige verkauft, doch sie wären jetzt ausgegangen. Er hat viele andere schöne und ziemlich hochpreisige Antiquitäten.

Heute ist es sommerlich warm. Der Museumsaufseher, ein älterer Herr, meint das Klima wäre seit neuestem so heiß wie am Mittelmeer. Das Museum erzählt auf eine sehr sympathische, altmodische Art von der Geschichte der Insel. Wie die Menschen hier früher gelebt haben, vom Walfang, wie bei Ausgrabungen Jahrtausende alte Menhire gefunden wurden und wie karg und hart das Leben früher war. Der Museumswärter ist ein lebendiges Geschichtsbuch, dabei sympathisch und witzig.

Im Gallery Restaurant entdecken wir eindrucksvolle Graphiken von Pflanzen und Blüten, sehr akribisch, fast naturalistisch dargestellt und doch verfremdet. Danach essen wir Muscheln, die fantastisch frisch schmecken, allerdings für R.s Geschmack etwas zu Italienisch, nämlich mit zu viel Knoblauch angerichtet sind.

Die Insel Mull hat nur eine einzige Whisky-Distillery hier in Tobermory. Wir suchen für F., unseren Whisky-Liebhaber, ein Mitbringsel. Ein freundlicher Verkäufer berät uns. Eine kleine Flasche? Den Torfigen, den Ledaigh, oder den milden, nach Sherry schmeckenden Tobermory? Der Verkäufer fragt, woher wir kommen. Aus München. Plötzlich redet er Schwizerdütsch. Sein Großvater sei schuld, sagt er, dass er nach Mull ausgewandert sei. Der habe immer zwei Flaschen gekauft, die eine zum Trinken, die andere als Wertanlage. So wurde er schon in der Kindheit für Whisky infiziert. Er lässt uns den Torfigen und den aus dem Sherry-Fass probieren. Als R. meint, wir würden eine große Flasche nehmen, nennt er sie sein Schätzli. Dann erklärt er uns, dass der Whisky, der um 50 Pfund die Flasche kostet, auch im Internet gekauft werden könne. Aber diesen, er zeigt ins oberste Fach des Regals, gibt es nur hier. Eine Fassabfüllung, fünfundzwanzig Jahre alt, nummeriert. Als wir den nehmen, umarmt er R. vor Freude.

Wir fahren weiter zum Schloss Glengorm, das auf einer kleinen Anhöhe hoch über dem Meer liegt, eine Art Geisterschloss, in dem man Horrorfilme drehen könnte. Die Landschaft erinnert an Arkadien, als Mensch und Natur noch eine Einheit bildeten. Schafe mit ihren kleinen Lämmern, Wald, Berge und das Meer mit seinen Inseln. Inmitten der Weide stehen die Menhire. Ein eindringliches Bild, fast wie vom Anfang der Welt.

Die Rückfahrt führt uns zur Westküste, steile Pässe hinauf und ebenso wieder hinunter, wo immer Lämmer und Schafe auf der Straße sein können. Ein spannendes Spiel mit den entgegenkommenden Autos bei der Suche nach einer Ausweichstelle und mit den nachfolgenden einheimischen Fahrern, die immer viel schneller als wir Touristen vorwärtskommen und deshalb überholen wollen. Aber die Landschaft ist gewaltig. Sie prägt sich fürs ganze Leben ins Gedächtnis ein.

Lunga und Staffa: Natur – paradiesisch

13. Mai 2025

Ein Boot von Staffa-Tours bringt uns von Fionnphort zur Vogelinsel Lunga. Dabei fahren wir an einigen Felsen vorbei, auf denen sich Robben sonnen oder im Wasser schwimmen. Lunga ist ein hohes Riff, auf dem nur Vögel leben. Wir müssen über Vulkangestein balancieren, um schließlich den hohen Berg hinaufzusteigen, wo wir nicht nur mit einer wunderbaren Aussicht belohnt werden, sondern auch mitten in der Brutstätte von Papageitauchern, den Puffins, stehen. Diese bunten, eigentlich eher südlich wirkenden Vögel haben keine Angst vor uns Menschen. Man kann bis auf wenige Meter an sie herangehen, ohne dass sie sich gestört fühlen. Sie brüten ihre Eier in Erdhöhlen aus, die sie selbst gegraben haben. So sind sie vor Möwen oder anderen Raubvögeln geschützt. Immer wieder kommen Puffins aus ihrer Höhle heraus, fliegen hinunter zum Meer, um dort nach Nahrung zu suchen. Deshalb herrscht unten im Meer ein lautes Getümmel von Puffins. Eine solche Vogelinsel ist ein wunderbares Erlebnis. Endlich einmal ein Ort, wo wir Menschen nur Gäste sind, wir, die sonst auf der Welt andere Lebewesen vertreiben und ausrotten. Die Welt ohne Menschen ist gewiss auch nicht vollkommen friedlich, aber sie scheint doch etwas mehr im Gleichgewicht zu sein.

Als wir uns auf einen Stein setzen, auf das Meer hinausblicken, den Puffins zuschauen und immer wieder ein Foto machen, kommt ein junger Chinese auf uns zu. Er zeigt stolz auf dem Display seines Fotoapparats fliegende Puffins in höchster Schärfe. Er hat eine professionelle Ausrüstung, erzählt, dass er in London Physik, spezialisiert auf Optik, studiert und nach seinem Master in Japan weiter forschen will. Er plant, neue Objektive und andere optische Geräte zu konstruieren, ist voller Enthusiasmus, nimmt es auf sich, seine schwere Fotoausrüstung zu schleppen und hat mutige Pläne für seine Zukunft. Als unser Boot ablegt, winkt er uns zum Abschied zu.

Das Schiff fährt nun nach Staffa, eine erstaunliche Insel mit ihren Basaltssäulen und Fingals Höhle, deren Akustik wir leider nicht erleben können, da wir nicht an Land dürfen. Der Landesteg wurde bei einem Unwetter zerstört und wird gerade repariert. So können wir nicht ganz Mendelssohns Erlebnis nachvollziehen, der im 19. Jahrhundert hier war und zu seiner Hebriden-Ouvertüre inspiriert wurde. Auch herrschen heute weder Sturm noch Regen wie bei Mendelssohn, der damals seekrank wurde. Vielmehr ist es so warm wie in Italien. Dennoch springt der Funke über: das ist eine Insel, die von fernen Urzeiten erzählt, von Mythen, vom Ursprung von Kultur und Menschheit.

Iona: ein geistiges Zentrum im frühen Mittelalter

14. Mai 2025

Von Fionnphort nach Iona benötigt das Schiff nur etwa eine Viertelstunde. Wir fahren erst am späten Nachmittag und unsere Hoffnung erfüllt sich, dass dann schon die meisten Touristen wieder die Insel verlassen haben. Iona erzählt von den Anfängen des christlichen Europa. Bereits im sechsten Jahrhundert nach Christus kamen irische Mönche hierher und bauten ein Kloster, das sich zu einer heiligen Stätte entwickelte. Dieses keltische Kloster und seine Kirche wurden zu einem geistigen Zentrum Schottlands. Zahlreiche Könige ließen sich hier beerdigen, aber auch gewöhnlich Sterbliche brachten mit dem Schiff ihre Toten hierher. Im achten und neunten Jahrhundert wurde das Kloster von Wikingern überfallen und diese friedliche Kultur geriet in höchste Gefahr. Eines der frühesten Manuskripte des Mittelalters, The Book of Kells, entstand um 800 auf Iona, musste aber nach Irland vor den Wikingern gerettet werden.

Wir gehen zunächst durch die verfallenen Mauern des Frauenklosters. Dort blühen viele Frühlingsblumen auf den Jahrhunderte alten Mauern. Als wir den Eintritt bezahlen, erfahren wir, dass das Museum bald schließt, das Kloster aber immer geöffnet bleibt. Deshalb gehen wir zuerst ins Museum, in dem wir viel über das frühere Klosterleben, die keltischen Kreuze, die Wikinger und die irischen Mönche erfahren. Wir umkreisen die Klosterkirche, die von außen wie eine Burg wirkt. Im Inneren der Kirche beeindrucken die über tausend Jahre alten Mauern, die noch erkennbaren Figuren auf den Kapitellen, die gedrungenen romanischen Säulen und Bögen. Hier herrschen eine Stille und Abgeklärtheit von der Welt, die auch heute noch nachfühlen lässt, dass dieser Ort etwas Besonderes, etwas Heiliges war und heute viele Menschen dazu bewegt, über das Leben, die Zeit und Ewigkeit zu meditieren.

Wir gehen langsam zurück und genießen diese fast unwirkliche Traumlandschaft: die alten Steine des Klosters, die hohen keltischen Kreuze, die schönen Gartenanlagen, das tiefblaue Meer und auf der anderen Seite die Insel Mull.

Bei der Heimfahrt machen wir Halt beim Laden, wo wir immer unsere Lebensmittel eingekauft haben. Dort gibt es auch einen gemütlich eingerichteten Pub, The Clansman, wo wir Muscheln auf englische Art in einer Sahnesoße genießen, die ihren Geschmack nicht übertönt, sondern hervorhebt. Die Muscheln selbst schmecken vorzüglich frisch. Sie wurden wahrscheinlich erst heute aus dem Meer geholt. Wo sonst kann man Meeresfrüchte so frisch erhalten?

Dann kommt leider der letzte Tag. Wir nehmen Abschied von dieser friedlichen Insel, spazieren zur Bucht, zwei Guinness-Dosen im Rucksack, setzen uns auf einen Felsen am Meer, genießen das Bier, die Aussicht, die würzige Luft aus Meersalz und Ginsterblüten. Dazu das Spiel von Bergsilhouetten, Abendsonne und Lichtspiegelungen im Meer.