Die Anreise: vom Schwarzwald nach Macon

18. April 2024

 

Schon seit vielen Jahren plane ich eine Reise ins Land der Albigenser und zum Emailmuseum in Limoges. Jetzt ist es endlich so weit. Unsere erste Etappe führt uns über den Schwarzwald in die Nähe von Lyon, wo ich in einem Weinberg ein Hotel reserviert habe.

Nachdem bislang der Aprils recht warm gewesen ist, fällt heute Nacht Schnee. Kurz vor Titisee zwingt uns eine Umleitung auf Nebenstraßen und plötzlich sind die Wiesen und Berge weiß. Es ist, als ob es Dezember wäre. Wenigstens ist der Schnee auf den Straßen schon weggeräumt. Sonst hätten wir mit unseren Sommerreifen sicherlich ein Problem. Doch unten im Rheintal wird es wieder wärmer und wir lassen den Winter hinter uns.

Je weiter wir nach Frankreich hineinkommen, umso grüner werden die Wälder: Der Frühling empfängt uns. Doch auch in Vinzelles, nahe Macon, ist es zu kalt für die Jahreszeit. Das Hotel, La Côte des Blancs, befindet sich in einem Weingut. Unser recht großes Zimmer wurde in die ehemalige Scheune eingebaut. Es ist gemütlich mit viel natürlich wirkendem Holz eingerichtet. Die Hotelbesitzerin freut sich, dass ich französisch spreche. Sie erzählt, dass es nachts viel zu kalt ist und sie Angst hat, dass der Frost die jungen Triebe an den Weinstöcken zerstört. Sie bereitet uns ein kleines Abendessen zu. Davor gehe ich den Weinberg hinauf. Die zarten Triebe des Weins leuchten im Gegenlicht hellgrün auf. Oben entdecke ich ein altes Schloss, das gerade renoviert wird.

Zum Abendessen erhalten wir Tourtons mit Salat: Kartoffelteigtaschen, die mit Käse gefüllt sind, dazu Wein, Ruth einen Beaujolais, ich den Weißwein des Weingutes. Schon einmal ein guter Anfang unserer Reise.

Ein Zentrum der Mittelalter-Verschwörungstheoretiker: Rennes-le-Chateau

19. April 2024

 

Das Ankommen ist immer das Schwierigste. Nach fünf Stunden auf der Autobahn leitet uns das Navi über Nebenstraßen weiter. Wir erreichen ein Dorf, in dem die Straßen immer enger werden und sollen den Fluss überqueren. Doch das ist nicht möglich, da die Brücke wegen Bauarbeiten gesperrt ist, und eine andere gibt es nicht. So müssen wir umdrehen und den ganzen Weg auf den Nebenstraßen zurück zur Autobahn fahren, um nun die längere Strecke über Carcasonne und Couiza zu wählen. Von dort geht es in Serpentinen auf einer engen Straße den Berg hinauf, dann auf eine Art Feldweg weiter durch den Wald. Schließlich stehen wir vor dem Tor der Domaine des Patiasses, wo wir unser Ferienhaus gebucht haben. Die Hunde kommen uns bellend entgegen und versperren die Einfahrt. Wir wissen nicht, ob sie freundlich sind. Auf jeden Fall will ich keinen überfahren. Deshalb steigt Ruth mutig aus, um sie etwas auf die Seite zu drängen. Doch die Hündin legt sich plötzlich auf den Rücken, was Ruth so überrascht, dass sie über sie stolpert und auch auf den Boden fällt. Erst dann erkennt sie, dass die Hündin sich niedergelegt hat, um gestreichelt zu werden. Schließlich kommen unsere Gastgeber, zeigen uns das Ferienhaus und wir ziehen ein.

Die Domaine wird von Bruder und Schwester bewirtschaftet. Der Bruder ist eigentlich Immobilienmakler, die Schwester, Madame Magrin, Lehrerin. Sie ist freundlich, hat aber eine gewisse Strenge und lobt sehr pädagogisch mein Französisch. Ich sage, dass ich die französische Sprache liebe, da sie musikalisch ist. Sie erwidert, dass das aber nur hier im Süden der Falle wäre, während die Franzosen im Norden gehackt sprechen würden. Jedenfalls reden die Leute hier verständlicher, etwas langsamer, vielleicht weil sie mehr Wert auf den Klang der Sprache legen. Ihr Vater, erzählt sie, hat im Testament bestimmt, dass seine beiden Kinder das Landgut weiterhin bewirtschaften müssen. Wenn sie das nicht tun, erhalten die Nachbarn den Besitz. Deshalb haben sie hier oben eine Schafherde und einige Hühner, und die Hunde bewachen das einsame Gehöft. Pierre, der Bruder, schenkt uns zwei Eier frisch aus dem Nest und sagt, dass wir sie mindestens noch fünf Tage aufbewahren müssten, bevor wir sie essen können. Er reserviert für uns in Rennes-le-Chateau einen Tisch im Jardin de Marie.

Durch Rennnes-le-Chateau darf man nicht mit dem Auto fahren. Man muss es unten im Parkplatz abstellen und kommt über eine steile Treppe in das Dorf. Doch das ist kein Dorf mehr, sondern ein etwas abgehobener Ort mit dem Schloss, dem neugotischen Tour Magdala und der im Neorenaissance-Stil erbauten Villa Béthania. Erstaunlicherweise hat dieser kleine Ort sogar eine Buchhandlung. Bevor wir ins Restaurant gehen, genießen wir die herrliche Aussicht auf die Berge und die untergehende Sonne. Im Restaurant herrscht eine weltläufige Atmosphäre. Einige junge Leute sind wie Hippies gekleidet. Die Älteren sind zumeist nicht Franzosen, wie auch unser Tischnachbar, ein Holländer. Er hat hier eine Ferienwohnung gekauft und genießt allein einige Tage eine Auszeit, während seine Frau arbeiten muss. Wir erfahren, dass hier noch einige weitere Niederländer und auch einige Deutsche leben. Die Landschaft ist wunderbar; essen lässt es sich im Jardin de Marie hervorragend und preiswert. An der Stirnseite befindet sich ein großer Holzkohlegrill. Er riecht appetitanregend. Das Essen – Lammkoteletts und Langusten – schmeckt bestens. Nur schade, dass es zu kalt ist, um im Garten unter dem großen Kastanienbäumen zu sitzen.

Doch nicht nur die schöne Aussicht und das gute Essen lockt die Menschen nach Rennes-le-Chateau. Der Legende nach hat der Dorfpfarrer Bérenger Saunière hier um 1900 einen Schatz gefunden, der es ihm ermöglichte, die Kirche zu restaurieren, den Tour Magdala und die Villa Béthania zu bauen. Es soll der Schatz der Templer sein! Deshalb ist die Buchhandlung voller Bücher über den Heiligen Gral, die Mythen der Katharer und andere Geheimgesellschaften. Madama Magrin erzählt am nächsten Tag, dass ihre Mutter in Rennes-le-Chateau Lehrerin war und damals viele Menschen aus aller Welt kamen, um in den Feldern rund um das Dorf nach dem Schatz zu graben, bis es schließlich verboten wurde. Damals hatte Pierre Plantard diese Legende bekannt gemacht und auf sich gemünzt, indem er behauptete, der Abbé Saunière habe Dokumente gefunden, die ihn, Plantard, als Erben der Merowinger ausweisen würden. Die englischen Schriftsteller Henry Lincoln, Richard Leigh und Michael Baigent schrieben darauf das pseudowissenschaftliche Buch Der Heilige Gral und seine Erben, das dann Dan Brown zu seinem Bestseller Sakrileg weiterdichtete.

Und das alles geht von Rennes-le-Chateau und seinem merkwürdigen Dorfpfarrer aus, der sich eine Märchenarchitektur leisten konnte, allerdings nicht finanziert durch einen Schatz, sondern durch ein geschicktes Marketing: Er veröffentlichte Anzeigen in religiösen Zeitungen, in denen er versprach, eine Messe zu lesen, wenn man ihm dafür Geld überwies: Gläubige bezahlten zwischen 1896 und 1915 für mindestens hunderttausend Messen. So wurde er zu einem reichen Mann, der sich ein erstaunlich luxuriöses Leben leisten konnte.

Das Land hier ist empfänglich für Mythen. Das hat einen Grund sicherlich darin, dass seine Geheimnisse noch immer nicht gelüftet werden konnten. Wer waren die Katharer und Albigenser, gegen die der Papst einen Kreuzzug ausrief, bei dem Tausende getötet wurden? Vielleicht hilft diese Reise, etwas mehr über sie zu erfahren.

Terrorismus im Mittelalter: die Klosterruine in Alet-les-Bains

20. April 2024

 

Morgens sind wir mit Einkaufen beschäftigt, um einen Vorrat für die nächsten Tage anzulegen. Wir fahren nach Limoux, da wir den Supermarkt in Couiza nicht finden. Einige Tage später entdecken wir, dass wir zu schnell in Couiza aufgegeben haben und der hiesige Markt eine bessere Auswahl und Qualität geboten hätte. Sei’s drum, zunächst sind wir versorgt. Am Nachmittag freuen wir uns über die Siesta in Badehose und mit Sonnenbrandgefahr, wohl wissend, dass daheim Schnee und winterliche Temperaturen herrschen.

Danach fahren wir von unserem Berg hinunter nach Alet-les-Bains. Das ist ein hübscher Ort mit einem klassizistischen Rathaus, kleinen winkligen Straßen, einer imposanten Platane und vor allem mit den Ruinen einer alten Kathedrale, die vom Friedhof aus besichtigt werden kann. Grabplatten mit Kunstblumen, Grabkreuze, teils aus Naturstein, teils aus Beton, dazwischen einige Zypressen und dahinter die Reste des Kirchenschiffes, Wände mit gotischen Fenstern, die zum blauen Himmel ragen und auf denen Blumen und kleine Büsche wachsen. Ein Bild von Schönheit, Vergänglichkeit, uralte Geschichten in sich tragend, romantisch an Böcklins Gemälde erinnernd, ein idealer Drehort für Horrorfilme.

Man weiß Einiges über diese Ruine. Die Abtei Sainte-Marie gab es schon im achten Jahrhundert. Im elften pilgerten viele Menschen hier her, da sie eine Reliquie des Kreuzes von Christus besaß. Sogar Papst Urban II. reiste deshalb zu dem Kloster. Nach seinem denkwürdigen Besuch wurde die Kirche erbaut und das Kloster zu einem prosperierenden Zentrum, einem Bollwerk gegen die Mauren in Spanien. Abt Pons Amiel befestigte Alet mit einer Stadtmauer und Toren, die es heute noch gibt. Ob diese Befestigung wegen der Mauren im nahen Nordspanien oder der Katharer errichtet wurde, ist nicht so ganz klar. Jedenfalls wird erzählt, dass nach dem Tod von Abt Amiel sein papsttreuer Nachfolger Saint Ferreol von dem Katharer Bertrand de Saissac seines Amtes enthoben und in den Kerker geworfen wurde. Bertrand ließ den Leichnam Amiels exhumieren, setzte diesen auf den Stuhl des Abts und ließ sich mit dem toten Abt als Vorsitzenden zu dessen Nachfolger wählen. Der Erzbischof von Narbonne, Berenger von Barcelona, erhielt eine hohe Geldsumme, damit er diese Wahl anerkannte. Ob diese schaurige Geschichte wahr ist, wissen wir nicht. Überliefert wird sie, wie so viele andere Geschichten über die Katharer, in den Protokollen der Inquisition. Jedenfalls wurde der Abt als Günstling der Katharer zwanzig Jahre später verjagt. Die Abtei entwickelte sich zu einem Zentrum im Kampf gegen die Ketzer und stieg 1318 zum Bistum auf. Man erweiterte die Kirche durch einen gotischen Chor und erhob sie zur Kathedrale. Das imposante Gebäude wurde so zur Demonstration des Sieges über die Ketzer. Doch schon zwei Jahrhunderte später wurde die Kathedrale in den Hugenottenkriegen zerstört und blieb bis heute eine Ruine.

Wer waren die Katharer? Waren sie wirklich so grausam, wie die Protokolle der Inquisition behaupten?

Wir fahren wieder hinauf zu unserem Ferienhaus, wo wir von den beiden Hunden mit größter Freude begrüßt werden. Nachts müssen sie allerdings irgendwelche Feinde verbellen. Wir schlafen deshalb nicht allzu gut.

Auf dem Markt von Espéraza

21. April 2024

 

Der Sonntagsmarkt von Espéraza lockt gleichermaßen Einheimische und Touristen aus einem Umkreis von über 100 Kilometern an. Von uns aus ist es nur ein Katzensprung. Wir finden sogar noch einen Parkplatz am Dinosauriermuseum und gehen durch die engen Gässchen in Richtung Aude, wo wir schon von weitem die vielen Menschen und die Marktstände sehen. Anfangs wirkt der Markt wie ein normaler Wochenmarkt. Biobauern verkaufen ihr Gemüse. Ein Weinhändler bietet den hiesigen Crémant aus Limoux zum Probieren an, ein Schaumwein, der in dieser Gegend schon vor dem Champagner hergestellt wurde. Ein Käsestand mit zwei freundlichen Verkäuferinnen und einer Menschentraube davor. Spargel, vor allem grüner Spargel. Ein Händler hat sich auf Knoblauch spezialisiert, ein anderer auf den französischen Nougat. Mehrere Stände verkaufen Paella, einer ist schon ausverkauft, als wir ankommen. Neben Französisch hören wir englische Sprachfetzen, vor allem, als wir zum Place du Marché kommen, in dem die Verkaufsstände in mehreren Reihen unter großen Platanen aufgestellt sind. Hier befindet sich die andere Attraktion dieses Marktes: Kunstgewerbe aller Art wie geflochtene Körbe, Schmuck, Stickereien, Batikstoffe und ein Stand mit Musikinstrumenten, der eine erstaunliche Auswahl verschiedenster Percussioninstrumente, Schellen, Glocken, Gongs, aber auch Flöten und Pfeifen bietet. Wenn ich eine Folkband hätte, würde ich hier viele außergewöhnliche Instrumente finden. In der Luft hängt der süßliche Duft von Haschisch. Die Menschen wirken entspannt und gelassen. Ein älteres Hippiepaar musiziert auf Gitarre und Elektro-Sitar. In den komplizierten Massagestuhl einer Thai-Masseuse biegt eine ältere Dame ihren Körper. Ein freundlicher junger Mann verkauft sein selbst gebackenes Brot und nimmt dazwischen einen Zug aus seinem Joint. Das Marktgeschehen skizziert ein älterer Mann mit schwarzem Hut auf seinem Zeichenblock. Dabei schaut ihm ein kleiner Junge staunend über die Schulter.

Die Menschen sind individuell gekleidet. Ältere Damen in Pullover und Jacke, Männer mit konventionellen Hüten, Hippiefrauen in bunten Hemden, die Männer mit Piratenkopftüchern. Ein jeder scheint hier sein Leben zu leben, ohne Rücksicht darauf, was andere darüber denken. Die Menschen in den Großstädten wirken uniformierter. Sie ordnen sich dem unter, was gerade angesagt ist. Hier in Espéraza ist das offenbar nicht notwendig. Das ist die Freiheit des ländlichen Lebens.

Märkte gab es schon immer, auch zu Zeiten der Katharer. Sie waren ein Ort der Begegnung, des freien Handels und des Dialogs. Herrschte damals auch schon ein so freies Leben? Kämpften die päpstlichen Kreuzfahrer auch dagegen an?

Als wir zurück in unser Ferienhaus kommen, freuen wir uns über unsere Einkäufe: Nougat mit Zitrone und Nüssen, eine Auswahl von Käse, Erdbeeren und Spargel.

Von der römisch katholischen Kirche vernichtet: die Katharer in Carcasonne

22. April 2024

 

Ein heiterer Himmel mit vielen weißen Schäfchenwolken begleitet uns auf der Fahrt von Rennes-le-Chateau nach Carcasonne. Seit meiner Jugend träume ich davon, hierher zu kommen. Doch damals versuchten wir, so schnell wie möglich Spanien zu erreichen. Deshalb war nie Zeit für Carcasonne.

Jetzt sind wir hier. Wir steigen den Weg zur Porte de l’Aude hoch, sehen hinauf zum alten Carcasonne. Ist es eine Burg? Nein, viel zu groß. Eine Stadt? Sicherlich, aber wehrhaft, uneinnehmbar.

Wir betreten Carcasonne durch das Stadttor und befinden uns im inneren Befestigungsring. Die Mauern sind gewaltig, riesige Quadersteine. Wie kamen die nach hier oben? Wie viele Menschen mussten hier Frondienste leisten?

Dann sind wir im Inneren der Stadt. Dort gibt es Plätze, Innenhöfe mit Grün und enge Gassen, wie in jeder mittelalterlichen Stadt.

Doch die Basilika St.-Nazaire umgibt etwas mehr Raum. Sie dominiert den südlichen Teil. Nach der Eroberung von Carcasonne durch die Kreuzfahrer vergrößerten die neuen Herrscher die Kirche um einen gotischen Chor und ein Querhaus. Eine Rosette mit ihren farbigen Gläsern öffnet das Gebäude dem Licht und vermittelt das Erlebnis von Klarheit, Schönheit und göttlichen Geist. Gegenüber dem schweren und gewaltigen Mauerwerk der Befestigungsanlagen wirkt dieser gotische Neubau wie ein Meisterwerk der Leichtigkeit, der Entmaterialisierung von Steinmauern und deshalb wie ein Triumph über Gewalt und Krieg.

Wir gehen entlang der Außenbefestigung zur Port Narbonne. Schießscharten ermöglichen den Blick hinaus auf das Land. Die Menschen, die hier wohnten, mussten sich isoliert von ihrer Umgebung vorkommen. Sie lebten auf einer Insel, in einer anderen Welt, distanziert vom sie umgebenden Land, über das sie herrschten. Auf dem Weg zum Port Narbonne sehen wir auf den Friedhof hinab, der auf der anderen Seite des Burggrabens liegt, und wir blicken hinauf auf die Türme des Stadttors mit ihren Schießscharten.

Dann finden wir durch das Gassengewirr mit vielen touristischen Geschäften zum Chateau Central, neben der Kirche das andere Machtzentrum in dieser Stadt. Wir umrunden das Gebäude in den Befestigungsgängen und staunen über den Ausblick hinunter auf die neue Stadt, vor allem aber auf die Basilika und das weite Land bis zu den schneebedeckten Pyrenäen.

Carcasonne lag am Handelsweg zwischen dem Mittelmeer und Atlantik. Vor allem aber war es eine Grenzstadt. Lange Zeit lauerte in den nahen Pyrenäen der sarazenische Feind. Allerdings geriet die Stadt nur 34 Jahre lang unter maurische Herrschaft, von 725-759. Doch auch später, als die Reconquista erste Erfolge erzielte, war Carcasonne noch immer eine Grenzstadt, nun zwischen Frankreich und Aragonien: Bis 1247 herrschten die Grafen von Barcelona. Und bis 1209 war sie eine Grenzstadt gegen die römische Papstkirche, die zu einem Kreuzzug gegen sie aufrief. Carcasonne wurde vorgeworfen, ein Zentrum der Katharer, also von Ketzern zu sein. Zwei Wochen hielten die drei- bis viertausend Bewohner der Belagerung stand. Dann gingen die Vorräte aus und sie mussten kapitulieren. Allerdings waren die meisten zuvor durch unterirdische Gänge geflohen. Von den restlichen 500 Einwohnern, vor allem alte und kranke Menschen sowie Kinder, durften 100 gehen. Sie wurden nackt aus der Stadt gejagt. Die restlichen 400 Menschen wurden verbrannt und erhängt.

Wer waren diese sogenannten Katharer? Man beschuldigte sie, einen anderen, falschen Glauben gehabt zu haben. Doch es gibt keine Schriften von Katharern, die uns über ihren Glauben informieren. Vielmehr stammen alle Informationen über sie und ihren angeblichen Irrglauben aus den Protokollen der Inquisition. Was wir von ihnen als Zeugnisse haben, sind unter Folter erzwungene Geständnisse, also nach heutigem Verständnis unbrauchbare Quellen. Deshalb gibt es nun viele Historiker, die bezweifeln, dass es diese Katharer überhaupt gab. Ihr Glaube ist möglicherweise eine Erfindung der Inquisition.

Was aber dann? Warum dieser Kreuzzug und dieser Massenmord? Die Menschen hier waren reich, hatten Kontakt zu den Sarazenen, trieben Handel mit ihnen, hatten eine weit entwickelte weltliche Kultur: So entstand in Okzitanien erstmals weltliche Dichtung und Tonkunst, die Lieder der Troubadoure, angeregt durch die nahe arabische Kultur. Die Menschen fühlten sich wahrscheinlich unabhängig von Rom und Paris. Sie unterwarfen sich nicht den Steuereintreibern der Kirche. Sie beugten sich nicht der zentralen römischen Lehre, hatten ihre eigenen Bräuche, wollten selbst die Bibel auslegen.

Das alles weckte Begehrlichkeiten machtpolitischer und wirtschaftlicher Art. Man stempelte sie zu Ketzern, verbrannte und erhängte sie, zog ihr Vermögen ein. Die katholische Kirche setzte ihr totalitäres Regime durch, das alle Bereiche beherrschte, bis hin zu den geheimsten Gedanken der Menschen, die in der Beichte dem Priester offenbart werden mussten. Die Freiheit und Unabhängigkeit der Okzitanier passten nicht ins Kalkül der römischen Kirche und des französischen Königs.

War also Carcasonne ein Ort, wo Freiheit, Offenheit, verbunden mit Wohlstand und Sicherheit herrschten? War es ein Handelsort, in dem sich verschiedene Kulturen vermischten und in Kontakt kamen? War Okzitanien kulturell dem übrigen Europa überlegen, da es vom Austausch mit den Sarazenen und von deren Wissen in Astronomie, Mathematik, Philosophie und Dichtung profitierte?

Als wir zurück zu unserem Ferienhaus auf dem einsamen Berg fahren, bleibt das Bild einer pittoresken Stadt mit heiteren Schäfchenwolken in unserem inneren Auge, der ideale Drehort für Mittelalterfilme und einer der Hoffnungsorte auf der Welt: Wären Carcasonne und Okzitanien damals von dem Kreuzzugsheer nicht besiegt worden, wären uns dann die Grausamkeiten unserer Kultur – die Inquisition, die Judenpogrome, die Hexenprozesse, der Dreißigjährige Krieg, usw. – erspart geblieben?

Freiheit versus katholische Gehirnwäsche: die Abtei Saint Hilaire und les Quatres Chȃteaux

23. April 2024

 

Die Abtei Saint Hilaire erreichen wir von Limoux aus über eine enge Landstraße durch Weinberge, Wiesen und Felder. Das Dorf wirkt etwas verschlafen. Die Bar, wo wir Briefmarken kaufen wollen, hat zu. Doch erfreulicherweise kann das Kloster besichtigt werden.

Schon 825 wird die Abtei in einer Urkunde belegt. Die Geschichte reicht hier im Süden Frankreichs viel weiter zurück als bei uns. Der Kreuzgang mit dem Brunnen ist ein meditativer Ort. Er strahlt Ruhe, Weltabgewandtheit, Distanz zum Geschehen außerhalb aus. Das war damals sicherlich so notwendig wie heute: Die Mönche lebten am Rand der christlichen Welt in einem umkämpften Gebiet.  

Doch sie waren offenbar auch ziemliche Freigeister, die sich nur ungern den neuen römischen Regeln unterwarfen. Ihr Kloster gehörte zur Grafschaft Carcasonne und die Mönche wurden im Kreuzzug gegen die sogenannten Katharer als Ketzer beschuldigt. Ihr Kloster wurde geplündert und verwüstet. Allerdings weiß man nicht mehr so genau von wem: Jedenfalls unterstellte man das Kloster dem dominikanischen Abt von Prouillie und die später geschriebenen Chroniken behaupten, dass es die Katharer zerstörten. Aber, so vermute ich, es könnte auch andersherum gelaufen sein; denn die Dominikaner waren gefürchtete und grausame Inquisitoren.

Heute herrscht hier eine wohltuende Ruhe. Im Kreuzgang sonnen sich Katzen. Das Wasser plätschert aus dem Brunnen. Schon seit meiner Jugend liebe ich solche Kreuzgänge. Im Sommer, wenn es heiß ist, erfrischt die Kühle hier den Geist. Die Verbindung von Architektur, Licht, Wasser und dem Grün des Gartens erinnert auch an die maurische Kultur.

Das klösterliche Leben war in friedlichen Zeiten sicherlich angenehm.  Davon zeugt auch der Weinkeller. Die bemalte Decke des Abtzimmers zeigt Liebesszenen. Trotz aller Gehirnwäsche der Inquisition konnte die Lebensfreude nicht ganz ausgerottet werden.

Von Saint-Hillaire fahren wir weiter zu den Burgen der Katharer. Dabei führt uns die Straße an Carcasonne vorbei und es öffnet sich uns ein erstaunlicher Blick auf die Altstadt. Wie eine mittelalterlicher Märchenstadt erhebt sie sich mit ihren Mauern und Türmen aus den Weinfeldern, dahinter die Montagne Noire. Ich halte an und gehe an der Straße einige Meter zurück, um ein Foto zu machen.

Dann fahren wir weiter in Richtung Berge. Ein enges Tal führt uns nach Lastours. Unser Reiseführer rät uns, zum Belvédère hinaufzufahren. Vom Parkplatz sind es nur einige Minuten bis zum Aussichtspunkt, von dem aus wir die Quatres Chȃteaux bestens sehen können. Die vier Burgen erheben sich aus dem steilem, mit Zypressen bewachsenem Berg. Sie wirken genauso wie man sich die Burgen des Ritters Artus vorstellt, entrückt, kaum einnehmbar, von einer südlichen Schönheit und evozieren Mittelalterklischees und -bilder mit Rittern, Troubadouren, maurischen Sklavinnen, heldenhaften Kämpfen und wilden Gelagen…

Paradoxe Architektur: die Kathedrale von Albi

24. April 2024

 

Die Fahrt auf der Autobahn von Rennes-le-Chateaux nach Albi dauert fast zwei Stunden. Doch wir wollen als Kontrastprogramm zum Mittelalter das Museum Toulouse-Lautrec besuchen, das freilich bei unserer Ankunft geschlossen ist: Mittagspause. Um die Zeit zu nützen, trinken wir im gegenüberliegenden Restaurant einen Café. Draußen ist es eigentlich viel zu kalt. Doch der Kellner sagt, dass innen kein Platz mehr ist. Als ich den Café bezahle, sehe ich, dass das Restaurant tatsächlich bis auf den letzten Tisch gefüllt ist. Das Essen muss hier offenbar gut sein.

Doch dann ist es schon drei Uhr und wir stellen uns in die Schlange vor der Museumskasse. Das Toulouse-Lautrec-Museum befindet sich im Bischofspalast von Albi, der gerade restauriert wird. Dennoch können wir eine gute Auswahl sehen. Neben den berühmten Plakaten und Graphiken aus der Pariser Zeit sehen wir erstmals die frühen Bilder: impressionistisch-naturalistische Landschaften, sehr lebendige und ausdrucksstarke Porträts.

Die Vorfahren Henri Toulouse-Lautrecs lassen sich bis ins 9. Jahrhundert zurückverfolgen. Die Grafen von Toulouse herrschten hier auch während des Albigenser-Kreuzzuges, bei dem Albi vollständig zerstört wurde. Die Kathedrale von Albi, einer der schönsten gotischen Kirchen überhaupt, wurde nach dem Sieg über die sogenannten Katharer gebaut. Außen wirkt sie wie eine Festung und zeigt die militante Seite des christlichen Glaubens. Die schmalen Fenster wirken wie Schießscharten, der Turm wie ein Burgfried. Die Mauern sind mächtig und stark. Dieses Gebäude verkündet den Menschen, dass es uneinnehmbar und deshalb eine Auflehnung gegen die Kirche aussichtslos ist. Mit dem Bau der Kathedrale wurde 1282 begonnen. Viele, die hier Frondienste leisten mussten, erinnerten sich noch an den Krieg, an die Hinrichtungen ihrer Vorfahren während des Kreuzzuges gegen die Albigenser. Dass sie nun gezwungen waren, diese Kathedrale zu errichten, musste ihnen als eine große Demütigung erscheinen. Dieses Gebäude ist ein Triumph über die Freiheit, eine große Macht- und Herrschaftsdemonstration der römisch-katholischen Kirche.

Von außen wirkt die Kirche martialisch, einschüchternd und beängstigend. Doch wenn man in sie eintritt, ist alles ganz anders. Wer eine himmlische, transzendente Schönheit erleben will, der muss diese Kathedrale besuchen. Da ist zum einen diese Architektur, die dem Stein eine unglaublich filigrane Leichtigkeit verleiht und die nach oben gerichtet ist und oben bedeutet ja immer Zukunft, Weiterleben, Geist, Überwindung der Materie, im christlichen Sinn Auferstehung. Zum anderen sind die Wände alle mit Fresken bemalt. Es sind sprechende Wände voller Erzählungen und Bedeutungen. Am Deckenfresko dominieren die Farben Blau und Gold. Das wirkt kostbar, glänzend schön und unendlich tief. Man stelle sich dieses Raum mit den Klängen der großen Orgel vor. Das überwältigt uns noch heute.

Umso mehr muss dies die Menschen damals überwältigt haben. Ist diese Architektur Propaganda für die römisch katholische Kirche, also für die Mächtigen der damaligen Zeit, oder wirklich Kunst? Heute beurteilen Viele Kunst und Kultur moralisch. Sie könnten gegen diese Kathedrale einwenden, dass hier die Menschen mit allen Mitteln, die damals zur Verfügung standen, vom römisch-katholischen Glauben überzeugt werden sollten und dass das nichts mit künstlerischer Wahrheit zu tun hat. Aber so einfach ist das nicht. Denn wer sagt, dass Kunst wahr, nämlich ein Abbild der Realität, sein muss? Und welche Wahrheit muss sie zeigen?

Wer heute diese Kathedrale betritt, sieht eine Vision von überirdischer Schönheit. Sie zeigt einen Traum, wie die Menschheit sein könnte und sollte. Hier in dieser Kirche ist dieser Traum Wirklichkeit geworden.  

Ein Abstecher zur Emailkunst: Limoges

27. April 2024

 

Limoges zu besuchen habe ich schon seit Jahren geplagt. Dort gibt es eines der besten und umfangreichsten Sammlungen für Emailkunst auf der ganzen Welt. Unser Hotel Les Allois liegt direkt bei der Kathedrale in einer Fußgängerzone. Um unser Gepäck im Auto bis zum Hotel fahren zu können, müssen wir zunächst den Chip holen, mit dem man den Polder herunterlassen kann. Von außen kaum kenntlich, liegt Les Allois in einem Altbau, hat nur wenige Räume und wird von seinem freundlichen Besitzer gemanagt. Die Zimmer sind einfühlsam renoviert mit alten Böden, viel Holz, aber einem hochmodernen Badezimmer. In unmittelbarer Nähe befindet sich ein kleiner Platz mit einigen Restaurants, darunter ein irischer Pub und eine Crêperie. Die Galettes, die wir dort essen, schmecken vorzüglich. Danach umrunden wir die Kathedrale, die in einem Park liegt, blicken auf den Fluss, die Venant, hinunter und werfen einen Blick ins Museum, das am Abend geschlossen ist.

Müde gehen wir zu Bett. Doch an Einschlafen ist nicht zu denken. Zum einen sind wir das französische Bett nicht gewohnt, das recht schmal ist und nur eine gemeinsame Decke bietet. Jeder von uns beiden will dem anderen nicht die Decke wegnehmen, ist deshalb übervorsichtig, liegt wie starr da und kann schon deswegen nicht einschlafen. Doch noch schlimmer ist, dass auf dem Platz unten bis morgens um drei sehr laut gefeiert wird. Es nützt nicht einmal, die Fenster zu schließen. Beim typisch französischen Frühstück – Croissants, Kaffee Marmelade, aber weder Käse noch Schinken – sind wir noch sehr müde. Ruth legt sich wieder hin.

Ich erkunde die Umgebung und gehe hinauf zur Altstadt, komme an einigen Fachwerkhäusern vorbei, auf einem der Plätze sind die Stände für den Wochenmarkt aufgebaut und sehe schließlich die große Markthalle. An diesem Samstag ist sie voller Menschen, die ihrem Sonntagseinkauf dort erledigen. Diese Markthalle ist ein französischen Genusstempel. Das Angebot ist groß: es gibt eine Fülle an Fischen, Meeresfrüchten, Gemüse, Obst, Gebäck und Süßigkeiten. Ich setze mich an einen Bartisch und genieße ein Krabbenbrot mit Weißwein.

Nachmittags ist das Museum geöffnet. Wir sind schon sehr gespannt: Die Sammlung von Emailkunst ist überwältigend. Man kann hier ihre Entwicklung von den Anfängen im Mittelalter bis heute verfolgen. Ein Schrein aus dem Mittelalter zeigt die besondere Qualität von Email: Zwischen Edelsteinen, die im Golduntergrund gefasst sind, werden Menschen im Relief dargestellt, deren Gewand mit Email farbig verziert ist. Aus dem Goldhintergrund leuchtet beides hervor: die Edelsteine und das Email. Im frühen Mittelalter wurde Edelsteinen eine magische Kraft zugeschrieben, da sie von innen heraus zu leuchten scheinen. Mit dem Email konnte man nun eine ähnliche Wirkung erzielen und so den Heiligen eine magische Kraft verleihen.

In der Renaissance wurden Emailleure von Limoge in ganz Europa mit ihrer Weiterentwicklung der mittelalterlichen Emailkunst erfolgreich: Sie verbanden die Leuchtkraft dieses Materials mit der Fähigkeit, zu malen und zu zeichnen. Die Sammlung besitzt zahlreiche Kunstwerke mit gemaltem Email.  Hierzu wurden einige Bereiche mit opakem weißen Email als Hintergrund für zeichnerische und malerische Darstellungen belegt, andere Teile mit transparentem Email, wo der Kupferuntergrund herausschimmert. Auf diese Weise erhält das Bild eine große Tiefe gleichsam ins Material hinein. Dies kann besonders schön an einem Hausalter beobachtet werden. Die Gesichter, die mit opakem Email weiß hinterlegt sind, drängen sich in den Vordergrund, erscheinen deshalb wichtig und bedeutsam, die Architektur und Landschaft dahinter in transparentem Grün leuchtet wie aus dem Bildinneren.

Es gibt auch großartige Tafeln in Grisailletechnik, so eine Platte mit Orpheus inmitten von Tieren. Die Körper sind hier räumlich schattiert. Das opake Weiß abstrahiert den Gott und die Tiere ins Geistige, zu einem zeitlosen Bild.

Wie diese Techniken im Verlauf der Jahrhunderte verfeinert und perfektioniert wurden, kann anhand zahlreicher Tafeln verfolgt werden, und zwar bis in 20. Jahrhundert.  Hier besteht auch eine beachtliche Sammlung an moderne Emailkunst. Email mit seiner Fähigkeit, zu abstrahieren und die reinen Farben wirken zu lassen, wurde als bestens geeignet für Expressionismus und gegenstandslose Kunst entdeckt.

Wir können uns kaum satt sehen und überwinden dadurch auch unsere Möglichkeit. Als wir am Abend im nahen Bistrot de la cité hervorragend speisen, wissen wir, dass sich diese Ausflug nach Limoges trotz der schlaflosen Nacht gelohnt hat.