Budapest erwandert: Gellert- und Burgberg
29. Juni 2024
Wer meint, in Paris würde es die besten Croissants geben, der täuscht sich. Wir frühstücken im Freyja, einem kleinen Café, das sich den Namen „the croissant story“ gegeben hat. Die Croissants werden hier nach einem skandinavischen Rezept aus Natursauerteig hergestellt; die Zutaten sind hausgemacht und die Croissants werden von Hand geformt. Ich probiere das Mandel-Croissant und bin begeistert.
Vom Freyja gehen wir zur Metro und fahren zur Großen Markthalle, die von außen wie eine Kirche wirkt: Sie hat zwei Türme mit bunten Ziegeln, einen prächtigen Eingang, ein Langhaus und zwei Querschiffe. Die Fassade ist aus Stein; das Innere besteht aus einer Stahlkonstruktion. Die technische Revolution ereignete sich also getarnt hinter der Fassade. Viele Budapester kommen hierher, um frisches Gemüse und Obst zu kaufen, vielleicht auch Fisch im Untergeschoss, und die Touristen schauen dabei zu, bestaunen die Unmengen an Paprika und Peperoni; Pilzliebhaber wie ich entdecken in einen Stand riesige Steinpilze und frische Pfifferlinge. Im oberen Stock wird es dann touristisch, aber es finden sich auch einige wirklich schöne Stickereien, die sicherlich von ungarischen Bäuerinnen geduldig über den Winter hergestellt wurden.
Von der Markthalle gehen wir zur Freiheitsbrücke und staunen, wie breit die Donau hier ist. Auch diese Brücke ist eine Stahlkonstruktion und wie die Markthalle verbindet sie Technik mit künstlerischer Gestaltung, hier im Jugendstil. 300 Meter überspannt sie. Auf der anderen Seite sehen wir das Gellerthotel mit seinem Thermalbad. Doch heute hätten wir eher kaltes Wasser nötig. Trotz der Hitze steigen wir den Gellertberg hinauf. Je höher wir hinaufkommen, desto besser wird die Aussicht. Die breite Donau! Bis 1849, als die erste Brücke gebaut wurde, hat sie die beiden Stadtteile Buda und Pest getrennt. Das neuere Pest, seit dem 19. Jahrhundert ein boomender Wirtschaftsstandort auf der flachen Ebene mit den Kirchen und dem Parlament. Auf unserer Seite das Schloss und die Matthiaskirche: Buda, die alte Stadt auf den Bergen, deren Befestigungsanlagen vielen Feinden trotzten, aber letztlich nicht den Mongolen, als sie 1241 über Ungarn nach Europa stürmten, und auch nicht den Osmanen, die 1541 Buda besetzten.
Oben angekommen sind wir enttäuscht: Die Zitadelle mit dem Denkmal des Heiligen Gellert wird gerade restauriert und darf nicht betreten werden. Wir steigen den Gellertberg wieder hinunter, dieses Mal auf der Schattenseite in Richtung Schloss und Fischerbastei.
Ziemlich erhitzt und ausgetrocknet erreichen wir den Burgpalast. Ein Fahrstuhl bringt uns die letzten Meter hinauf. Dass dort bereits 1242 nach dem Mongolensturm eine Burg und etwa 200 Jahre später ein Renaissanceschloss errichtet wurde, kann man heute nicht mehr sehen. Vielmehr ist der Burgpalast ein riesiger Gebäudekomplex zwischen Barock und Historismus. Man könnte hier viel anschauen: die Nationalgalerie, das Historische Museum…. Doch das müssen wir für eine spätere Budapestreise ausklammern. Müde und durstig ruhen wir uns im Café mit seiner rettenden Klimaanlage aus.
Danach gehen wir weiter zur Matthiaskirche. Wir sind erfrischt und so stört es nicht, wieder einen Berg hinunter und eine große Treppe hinaufzugehen. Dann stehen wir in einer ganz anderen Stadt, nicht dem Gründerzeit-Budapest, sondern in einer Residenzstadt mit zwei- bis dreistöckigen Häusern, fast ein wenig ländlich. Buda sieht man an, dass es eine viel älter ist. Gegenüber der Großstadt auf der anderen Flussseite genießt man hier die Ruhe und Beschaulichkeit einer anderen Zeit. Wir gehen zur Matthiaskirche und Fischerbastei und befinden uns unversehens in einem touristischen Hotspot. Insbesondere drängen sich die Menschen auf der Aussichtsplattform. Jeder will hinunterschauen auf die Donau, das neogotische Parlament und im Vordergrund sich im Foto festhalten. Auch wenn dies ein tausendfach abgelichtetes Instagrammotiv ist, irgendwie erscheint dieser Ort magisch.
Budapest ist Europa, aber aus der Perspektive von Frankreich, England oder Deutschland doch ein ganzes anderes Europa, wird hier deutlich. Die spitzen Hauben der Wachtürme auf der Fischer-Bastei wirken orientalisch. Doch diese konischen Türme wurden erst um 1900 gebaut. Es ist eine Phantasiearchitektur wie die Schlösser von Ludwig II. in Bayern, eine Phantasie über magyarische Nationalität und Identität, als Ungarn noch immer zur k.u.k-Monarchie gehörte. Doch auch wenn diese Architektur nicht alt und original mittelalterlich ist, zeigt sie doch etwas von der Orientierung nach Osten.
Diese Mischung aus westlichen und östlichen Elementen wird in der Matthiaskirche dann anhand originaler Architektur deutlich. Anfangs war diese Kirche eine romanische Basilika, wurde dann zu einer gotischen Hallenkirche, erhielt einen Renaissance-Kirchturm, wurde unter den Osmanen zur Großen Moschee und danach barockisiert. Die Spuren dieser erstaunlichen Geschichte hier zu suchen und zu entdecken ist faszinierend und hat uns lange gefesselt.
Ein Blick in die Geschichte: das Ungarische Nationalmuseum
30. Juni 2024
Zum Frühstück geht’s heute ins VAJ, wo ein großer Andrang herrscht. An der Theke kann man aus einer großen Auswahl an Toasts, Croissants und Süßigkeiten sein Frühstücke zusammenstellen. Wir erwischen noch einen Tisch im Freien an der Hauptstraße. Die Toasts sind riesig und der Kaffee schmeckt bestens. Dazu kann man das Leben auf der Straße beobachten. Die Bäckerei besuchen viele Studenten, wie mir scheint nicht nur aus Ungarn sondern aus vielen anderen Ländern.
Da es heute wiederum so heiß ist, beschließen wir, ins Museum zu gehen, und zwar ins nahe Ungarische Nationalmuseum, wo es allerdings mangels einer Klimaanlage ziemlich schwül ist. Aber die ungarische Geschichte wird hier so instruktiv präsentiert, dass wir alle Widrigkeiten vergessen. Ungarn ist anders als Westeuropa, lernen wir. Vor etwas mehr als 1000 Jahren waren die Magyaren ein nomadisches Reitervolk, dessen Raubzüge sie durch ganz Europa führten. Sie stürmten auf ihren Pferden bis in den Norden nach Bremen, ins französische Burgund und in den Süden bis hinab zum italienischen Stiefel. Damals waren sie der Schrecken Europas. 955 wurden sie schließlich in der berühmten Schlacht vor Augsburg am Lechfeld besiegt.
Danach erfolgte die Bekehrung zum Christentum, die wir uns nicht allzu freiwillig und friedlich vorstellen sollten. Das wilde Reitervolk wurde gezähmt. Allerdings erschien es aus westeuropäischer Perspektive noch immer ziemlich ungehobelt. Das war zumindest ein Klischee in der Wiener Operette oder in der Figur des Mandryka in der Arabella von Richard Strauss, der allerdings ein kroatischer Graf ist. Doch Kroatien gehörte im Mittelalter ebenso zum ungarischen Königreich wie Slowenien und Bosnien.
Die Ungarn wurden selbst dann das Opfer eines Reitervolks, wie sie es selbst noch vor wenigen hundert Jahren gewesen waren: der Mongolen- oder Tatarensturm 1237-1242 vernichtete etwa die Hälfte der Bevölkerung. Danach lockte Ungarn mit Steuerprivilegien Einwanderer in das Land, das vor allem unter König Matthias Corvinus als Renaissancestaat mit vielen Gelehrten aus dem Ausland aufblühte.
Doch erneut wurde Ungarn von Feinden überrannt: Dieses Mal von den Türken. Sultan Süleyman der Prächtige eroberte das Land und die Osmanen herrschten bis 1687 hier. Als sie Wien belagerten, überschätzten sie ihre Stärke und wurden anschließend von den Habsburgern aus Ungarn vertrieben, die nun die Macht übernahmen. Bis zum Ende des I. Weltkriegs war Ungarn Teil der k.u.k. Monarchie. Das bedeutete für die Ungarn: 200 Jahre lang vergebliche Befreiungsversuche, Aufstände und erfolglosen Kämpfe.
Ungarn hat eine merkwürdig mäandernde Geschichte, auch nach 1919: ein Rechtsruck unter Miklós Horthy, Orientierung an Mussolini und Hitler, Teilnahme am II. Weltkrieg als Verbündete Deutschlands, 1943 Aufkündigung dieses Bündnisses, 1944 Besetzung durch deutsch Truppen, Deportation und Ermordung der großen jüdischen Gemeinde unter Adolf Eichmann: mindestens 437.402 Menschen! Nach dem Krieg eine Demokratie, die von den Kommunisten unterwandert wird und ab 1949 ein Vasallenstaat der Sowjetunion. Der große Volksaufstand 1956 wird niedergeschlagen, 100.000 sowjetische Soldaten besetzen das Land und 200.000 Ungarn gelingt die Flucht in den Westen. Erst 1990 kann sich Ungarn von dieser Besatzung befreien und ist damit erstmals seit einem halben Jahrtausend wieder ein freies und selbstbestimmtes Land.
Vielleicht haben wir durch diese Ausstellung Ungarn ein wenig besser kennengelernt. Dieses Land war immer „zwischen“ Europa und dem Orient und das einstige wilde Reitervolk wurde vielfach gedemütigt.
Am Abend besuchen wir die Große Synagoge in der Dohánystraße. Damit wir hineindürfen, erhalten wir Kippas aus Pappe. Da Florian und Mattias kurze Hosen tragen, müssen sie ihre Knie mit einem Regenumhang aus Plastik abdecken. Auch diese Synagoge ist Gründerzeitarchitektur, eine Mischung aus Alhambra, assyrischer, babylonischer und islamischer Architektur. Der daraus entstandene neue Stil, damals als jüdische Gotik angesehen, ist eine Art frühe, globale Weltarchitektur. Innen wirkt die Synagoge durch die Spiel von Licht und Schatten geheimnisvoll und mystisch. Der Toraschrein leuchtet hell und klar hervor wie das Licht der Vernunft. Insoweit ist dieses Bauwerk auch ein Symbol der Aufklärung; die damals in Budapest lebenden Juden glaubten, dass sie hier zusammen mit der christlichen Bevölkerung eine Zukunft hätten, wie sie in Lessings Ringparabel angedeutet wurde. Doch dem war nicht so: Bilder in der Holocaust-Ausstellung dokumentieren, wie 1944 sich die Leichen der ermordeten Juden im Garten der Synagoge stapelten. Das Holocaust Denkmal dort zeigt einen Baum aus Stahl mit Blättern aus Blech. Auf jedes Blatt ist der Namen eines ermordeten Juden notiert.
Heute leben in Budapest ungefähr sechzig bis siebzig Tausend Juden. Das jüdische Viertel verwöhnt seine Gäste mit außerordentlich guten Speiselokalen. Unseren letzten Abend verbringen wir im Mazel Tov, einem wunderbaren Restaurant in einem Innenhof mit einer Kochkunst, die sich ganz ähnlich wie die Architektur der Synagoge vom Orient inspirieren lässt. Wir genießen die Hummus Platte, ein großartiges Shawarma und ungarischen Wein.
Budapest in den Zwanziger Jahren: Schreckliche Armut und exzessiver Reichtum
1. Juli 2024
Während der Rückfahrt im Zug lese ich János Székelys Roman Verlockung, der im Budapest der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt und den jeder lesen sollte, der wissen möchte, wie es sich hier lebte, als diese prächtige Architektur entstand. Székely zeigt, was sich hinter den prachtvollen Fassaden der Gründerzeitarchitektur abspielte. Budapest war damals zugleich das Armenhaus Europas mit hungernden Kindern, Obdachlosen, die im Park übernachten mussten, und die Kulisse für die Reichen und Mächtigen. Aus der Perspektive eines Liftboys geht es um Existenzkampf, Lebensfreude trotz Armut, käuflichen Sex und vermeintliche Liebe, Kommunismus und Rechtsradikalismus, Antisemitismus und den Zusammenhalt der Armen, Geschäfte am Rand des Legalen…
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