Die Landshuter Hofmusiktage 2018 begeben sich auf die Spurensuche nach einer Emotion, die heute manchem obsolet erscheint.
Gegenwärtig sind viele Menschen von Angst geprägt. Gründe dafür gibt es genug: Klimawandel, Naturkatastrophen, Flüchtlinge, Terror, Armut, Hunger, Verelendung, Diktatur und vieles mehr. Selbst in Ländern wie Deutschland, denen es gut geht, scheinen Freude und Fröhlichkeit eher selten zu sein. Hier lachen die Menschen oft weniger als in ärmeren Regionen. Passt Musik, die Freude darstellt und ausdrückt, in unsere Zeit? Darf sich ein Festival überhaupt in unseren Zeiten dem Thema „Freude und Frohsinn – Musikalische Gegenwelten aus Mittelalter, Renaissance und Barock widmen?
Kunst: Abbild – Gegenbild
Doch Musik ist nicht nur ein Abbild der Welt oder ein Ausdruck der Wirklichkeit, sondern kann auch ein Gegenbild sein, indem sie uns erleben lässt, wie die Welt sein könnte und bei näherem Hinsehen auch manchmal ist. Die Vorstellung, Kunst müsste realistisch oder naturalistisch die Welt abbilden oder – in der Musik – ein Ausdruck unserer Wirklichkeit sein, entstand vor allem im 19. Jahrhundert. Davor entwarfen die Künstler zumeist eine eigene, geistige Welt. Musiker lieferten beispielsweise Tänze, Intraden, Arien oder Messen, die jeweils eigenen Gesetzmäßigkeiten folgten und somit eine eigene musikalische Wirklichkeit sind. Die fahrenden Musikanten, die in den Tavernen zum Tanz aufspielten, verbreiteten Lebenslust, die Ratsmusiker in den Städten und die Mitglieder der Hofkapellen machten mit ihrer Musik die herrschenden Ideen und Vorstellungen erlebbar, beispielsweise repräsentierte der strahlende Trompetenklang die Macht des Königs, der Reigen die Ordnung der Stände, der Choral in der Kirche die Religion.
Musik selbst bereitet Freude
Ein möglicher Ursprung der Musik ist, dass Hirten schon in vorgeschichtlichen Zeiten beispielsweise aus Freude an der Nachahmung des Gesangs der Vögel auf ihrer Flöte spielten – und sie hatten ja die dazu nötige Muse, wenn sie auf ihre Herde aufpassten. Musizieren an sich bereitet nämlich Freude. Musik ist Bewegung und entsteht durch Bewegung, etwa durch die Bewegung der Finger, der Hände, je nach Instrument, oder des Mundes beim Singen. „Wenn alles unbeweglich wäre, müßte auch alles todtstill sein,“ schrieb der Musiktheoretiker Johann Mattheson 1739 in seinem Buch „Der vollkommene Kapellmeister“[1]. Eine fließende Bewegung, wie sie viele Musik auszeichnet und wie sie im Tanz körperlich mitvollzogen wird, hat positive Auswirkungen auf unsere Psyche: wir kommen in einen „Flow“, der uns kreativ, tatenlustig und positiv stimmt; dies hat der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi[2] gezeigt.
Freude: Affektdarstellung in der Musik
Musik kann wie keine andere Kunst Emotionen darstellen. Den Affekt der Freude, um nochmals auf Mattheson zurückzukommen, drückt sie durch „weite und erweiterte Intervalle“, also durch Melodiesprünge aus, „da Freude durch Ausbreitung unserer Lebens-Geister empfunden wird.“[3] Doch Musik hat noch viel mehr Ausdrucksmöglichkeiten für Freude, beispielsweise tänzerische Rhythmen, helle Durklänge, Aufschwünge in hohe und lichte Tonregionen, heitere Klangfarben wie die der Flöte oder der Violine oder den strahlend festlichen, glanzvollen Ton der Trompete.
Affekte und ihre Darstellung auf dem Instrument oder mit der Stimme wurden im Barock und in der beginnenden Klassik zentral für die Musik. Zunächst bestimmte ein Affekt einen ganzen Satz oder eine ganze Arie, dann erkannten die Musiker, dass die Stimmungen wie Licht und Schatten wechseln. Dabei wurde vom Musiker erwartet, dass er „sich selbst in die Haupt- und Nebenleidenschaften, die er ausdrücken soll,“ versetzen kann (dies forderte Johann 1752 Joachim Quantz in seinem „Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen“). „Im Allegro, und allen dahin gehörigen muntern Stücken muß Lebhaftigkeit herrschen,“ schrieb er und machte aus den Emotionen eine Art Wissenschaft: „Es gibt verschiedene Grade der Lebhaftigkeit und Traurigkeit. Z. B. wo ein wütender Affekt herrscht, da muß der Vortrag mehr Feuer haben, als bei scherzenden Stücken, ob er gleich bei beiden lebhaft sein muß.“[4]
Ungebändigte und gebändigte Freude
Freude ist in der Musik auf ganz verschiedene Weise hörbar. Es gibt die wilde, ausgelassene und ungebändigte Freude. Man fand dies vor allem bei den fahrenden Musikern, den Gauklern und den Vaganten, also in der Musik des Volkes, die zumeist nicht aufgeschrieben und deshalb auch nur in wenigen Melodien überliefert ist. Zumeist ist diese Art des Musizierens über die Jahrhunderte verloren gegangen. Aber es gibt noch einige Spuren, die überlebt haben, etwa in der korsischen Polyphonie, in der traditionellen Musik Siziliens und in der musikalischen Praxis arabischer und türkischer Musiker. Aus ihrem Spiel etwa der Rahmentrommel, das mündlich von Generation zu Generation übermittelt wurde, kann erschlossen werden, wie diese Musik erklang, von der uns zumeist bestenfalls nur die Melodien schriftlich überliefert sind.
Doch in der rational bestimmten europäischen Kultur wurden auch die Emotionen gebändigt: Das europäische Tonsystem beschränkte sich auf Tonleitern mit 8 Tönen, bestehend aus Ganz- und Halbtonschritten und ließ Vierteltöne und Chromatik, wie sie in der orientalischen Musik erklingen, außen vor. Die außereuropäische Musik klingt deshalb sinnlicher. Für die Bewohner der mittelalterlichen Stände war beispielsweise das jüdische Ghetto in Frankfurt ein solch exotischer Ort. Wenn die Klezmorim an jüdischen Feiertagen aufspielten, strömten die Bürger dorthin – solange bis dies verboten wurde.
Christentum: Religion der Freude
Das Christentum mit der „frohen“ Botschaft der Welterlösung verstand sich als die wahre Religion der Freude. Das Alleluja, viele Hymnen und Psalmen besingen die Freude, oft mit einem Feuerwerk von Melismen, in denen die vertonte Sprache zurücktritt: Freude ist hier überbordende Musik. In Notre Dame werden dann gerade diese Melismen zu Mehrstimmigkeit ausgeweitet. So kommt zur Melodie der prachtvolle Klang. Als Rhythmus überwiegt hier der Dreier, der als vollkommen und göttlich angesehen wurde, entsprach er doch der Dreieinigkeit Gottes und war zugleich der Rhythmus für den Tanz. „Freude“ war also eine zentrale Emotion der Kirchenmusik, bis hin zu Johann Sebastian Bachs „Weihnachtsoratorium“: Freude über die Geburt Christi, den Erlöser der Welt. Dass das Christentum eine Religion der Freude ist, wurde allerdings manchmal, beispielsweise bei der Inquisition, der Hexenverfolgung oder im puritanischen Bürgertum des 19. Jahrhunderts vergessen.
Irdische Freuden: Frühling, Liebe, Natur
Irdische Freuden werden in der weltlichen Dichtung zuerst mit Liebe und der ihr entsprechenden Jahreszeit, dem Frühling verbunden. „Ganzer fröiden wart mir nie sô wol ze muote: mirst geboten, daz ich singen muoz“ („Noch nie war ich so auf volle Freude gerichtet; es treibt mich unwiderstehlich zu singen“), dichtete der Minnesänger Walter von der Vogelweide. Liebesdichtung war in Renaissance und Barock der Ausgangspunkt für deutsche Lieder, französische Chansons, italienische Villanellen, Madrigale und Arien, in denen der Affekt „Freude“ immer differenzierter, reicher an musikalischen Bildern, rhetorischen Figuren, Rhythmen und Klangschattierungen gestaltet wurde.
Mit der Freude über Liebe ist die über den Frühling eng verbunden. „Aufs süssen vogelin schal erklingen, singen hohen hal galander, lerchen, drossel, die nachtigal“ (die Vöglein lassen den Gesang ertönen, schwebend heller Klang: Lerchen, Drosseln, Nachtigall),“ schrieb Oswald von Wolkenstein in dem Frühlingslied „Der mai mit lieber zal“. In den folgenden Jahrhunderten inspirierte Vogelgesang zahlreiche Komponisten, von beispielsweise Clement de Janequin in seiner Chanson „Le chant des Oyseaulx“ über Antonio Vivaldis „Frühling“ bis hin zu Olivier Messiaens „Catalogue d’oiseaux“.
Ethik der Freude
Doch Freude ist auf dieser Welt zumeist nie rein. Dies besang Oswald von Wolkenstein, einer der letzten Minnesänger und zugleich ein höchst moderner Dichter etwa in seinem Lied „O welt, o welt, ain freud der kranken mauer, wie swer du bist! dein lon, der wirt mir sauer“ („Oh Welt, oh Welt, wie brüchig ist die Mauer deiner Freuden, ach welche Last du bist! Dein Lohn, der schmeckt mir bitter,“). Die Vergnügungen dieser Welt haben zumeist auch ihren Preis. Was für den einen eine Freude ist, ist für den anderen oft das Gegenteil: Siegesfreude bedingt einen Verlierer und damit auch Leid, Schadenfreude ein Opfer, und damit auch Scham. Lachen kann auch Auslachen und Spott sein, Siegesfreude Triumph und damit eine Manifestation von Macht und Überlegenheit. Dies ist der Stoff der Commedia dell’Arte, der musikalischen Komödien und Dramen, der Opera buffa und Opera seria.
„Man kann nicht in Freude leben, ohne vernünftig, edel und gerecht zu leben, aber auch umgekehrt kein vernünftiges, edles und gerechtes Leben führen, ohne in Freude zu leben,“ erkannte in der Antike der Philosoph Epikur. Seine Philosophie der Freude hat nicht mit einem vergnügungssüchtigen Leben zu tun, sondern mit der Suche nach der „Eudaimonie“, also der richtigen Lebensführung, einer Ethik, die den Menschen von Angst und anderen Zwängen befreit. Etwa zweitausend Jahre später komponierte Ludwig van Beethoven seine 9. Symphonie, an deren Ende er Friedrich Schillers „Ode an die Freude“ setzte, die ein Appell für Brüderlichkeit, Frieden und Toleranz ist. Auch hier ist Freude wie in der Antike verbunden mit Vernunft und höchsten ethischen Ansprüchen.
In unserer Zeit wird der Begriff „Freude“ oft in Werbeslogans eingesetzt und erscheint deshalb abgenützt als Teil einer Konsumwelt, die immer ihren unerfreulichen Preis wie beispielsweise Naturzerstörung oder Ausbeutung billiger Arbeitskraft hat. Aber dennoch haben die Menschen eine tiefe Sehnsucht nach einer reinen, nicht belasteten Freude, was sich etwa in der weltumspannenden Popularität von Beethovens „Freude, schöner Götterfunden“ zeigt. Gerade in einer von vielen Umbrüchen und Gefahren bedrohten Zeit tut es deshalb gut, sich daran zu erinnern, was Freude ist und wie sie in Musik der letzten 800 Jahre erklingt.
[1] Johann Mattheson: Der vollkommene Kapellmeister, 1739, Reprint: Documenta Muisicologica, Kassel 1954, S. 9.
[2] Mihály Csíkszentmihályi: Flow. Klett-Cotta, Stuttgart 2008.
[3] Mattheson, S. 16.
[4] Johann Joachim Quantz: Versuch einer Anweisung, die Flöte traversière zu spielen, Berlin 1752, Reprint Documenta Musicologica Kassel 1983, S. 107.
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