Nikolaus Brass und das Symphonieorchester Vorarlberg
Das Symphonieorchester Vorarlberg spielt „Wie viel Heimat braucht der Mensch?“ von Nikolaus Brass. In dieser Komposition liest ein Sprecher das Essay von Jean Améry aus dessen autobiographischem Buch „Jenseits von Schuld und Sühne“ vor und die Musik stellt der erzählenden, reflektierenden, analysierenden Sprache eine ganz andere Form der Kommunikation gegenüber. Anfangs habe ich die Befürchtung, dass dieser Text und die Musik nicht zusammenfinden, dass es disparat bleibt. Doch diese Angst ist unbegründet. Die Musik von Brass illustriert nicht einzelne Worte oder Bilder des Textes, der die Flucht aus der Nazidiktatur, den Verlust von Heimat und bisheriger Identität beschreibt. Vielmehr gelingt es Brass mit seiner Musik, dem Texte weitere Dimensionen hinzuzufügen. Diese Dimensionen umfassen zum einen Emotionen, aber nicht vordergründige, sondern in die Tiefe führende, zum anderen aber auch Prozesse, die das bisher Bekannte fremd und entfernt erscheinen lassen. Die Musik wirkt zerbrechlich, gläsern, aber nicht wie klares Glas, sondern getrübt, undurchsichtig. Einst Vertrautes wie die Signalhupen der Postbusse oder die Geräusche beim Mähen, werden fremd. Am Schluss sägt der Schlagzeuger einige Holzstücke ab: ein konkreter Klang aus einer fern scheinenden Wirklichkeit und zugleich ein Symbol, dass etwas endgültig abgebrochen ist. Hier gelingt es der Musik, in aller Klarheit und sehr drastisch auszusprechen, was die Sprache nur umschreiben kann: Heimatbewusstsein und eine mit der Heimat verbundene Identität sind endgültig und unheilbar abgebrochen aufgrund von Vertreibung und Flucht.
Jonathan Brandani, der Dirigent, führt in seinem Konzertprogramm sehr unterschiedliche Werke auf: eine geistvoll witzige Opernouvertüre des Filmkomponisten Nino Rota, die romantische Tondichtung „Harold en Italie“ von Héctor Berlioz und in der Mitte „Wie viel Heimat braucht der Mensch?“. Er gestaltet alle drei Werke mit viel Sinn für das Leise und Nachdenkliche, für das motivische, klangliche und rhythmische Detail, für eine sprechende Artikulation und eine spannende Gesamtdramaturgie. Dass er den Mut hat, in das Programm eines Abonnementkonzerts ein zeitgenössisches Werk einzubauen, stößt beim Publikum auf Begeisterung, da kein Bruch zu hören ist in der Art des Musizierens. Die älteren Werke wirken genauso gegenwärtig wie das zeitgenössische. Und die Hörer können sich ihre eigenen Gedanken machen: Was bedeutet „Heimat“ musikalisch?
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