Leipzig, 23. März 2017

Es ist eine wunderbare Erfahrung: Orte spiegeln noch Menschen, die vor über 250 Jahren lebten. Im Leipzig fühle ich mich Johann Sebastian Bach sehr nahe. Das liegt vielleicht am Menschenschlag, der humorvoll, tiefgründig, widerspruchsvoll, widerständig seinen Weg geht – trotz allem. 1985 lernte ich in Hans- Joachim Rotzsch einen solchen Menschen kennen, der den Thomanerchor durch die schwierige DDR-Zeit lotste, mich damals mit seinem Trabi durch die – für mich als Westler – menschen- und autoleeren Straßen fuhr und dennoch, schimpfte, wenn der Autofahrer vor ihm zu langsam an der Kreuzung startete. Aber er liebte Bach über alles und tat für sein Weiterleben auch alles. Im kleinen Kreis klagten damals die Musiker über die DDR. Ich weiß nicht, was er als IM der Stasi weitererzählte. Ich denke, nur die Nebensächlichkeiten über einige Musikjournalisten, die zum Bachjubiläum nach Leipzig gekommen waren. Damals waren die Häuser von Ruß geschwärzt. Die Stadt wirkte düster und bedrohlich und es war nur eine Freude hier zu sein, wenn man das Glück hatte, dem Thomanerchor zuhören zu dürfen. Heute sind die alten Gebäude größtenteils renoviert und erstrahlen in der alten Leipziger Pracht. Die Thomaskirche wirkt wie neu und sie ist nicht nur ein Zeitfenster zurück zu Bach, sondern spiegelt auch die Zeit nach Bach. Das Mendelsohn-Fenster von Hans Gottfried von Stockhausen, einem Freund von Ruths Familie, erinnert nicht nur an Bachs Wiederentdeckung durch Mendelssohn, sondern auch, dass die Judenverfolgung während der NS-Zeit überwunden ist und sogar ein jüdisch-stämmiger Musiker in einer christlichen Kirche seinen Platz hat. Das Bach-Museum entführt nicht nur in die Atmosphäre eines alten Bürgerhauses, sondern ermöglicht lesend, Bilder betrachtend und Musik hörend eine intensive Begegnung mit Johann Sebastian Bach. Wer dann abends die Motette hört, weiß, warum Bach noch heute so gegenwärtig ist: dort verbinden sich nämlich Orgelmusik von Bach, mehrstimmige Kirchenlieder von den reinen und klaren Stimmen der Thomaner gesungen aus dem Barock und dem 20. und 21. Jahrhundert mit einer kurzen Predigt, die Verbindungen von Bachs Zeit zu unserer knüpfte: Bedrängnis, Angst, Terror, aber auch Hoffnung, Trost und die Suche nach Rettung sind geblieben.