Über Kultur und Corona-Pandemie

Noch vor einem halben Jahr hätte niemand geglaubt, dass einmal eine Zeit kommt, in der man nicht mehr ins Konzert, die Oper oder Museum gehen kann. Einen solchen Stillstand hat es in meiner Generation noch nie gegeben, und auch nicht in der Generation davor: Sogar während des II. Weltkrieges fanden bis wenige Monate vor dem Kriegsende noch Konzerte statt. Wir erleben also eine außergewöhnliche Situation.

Eine meiner größten Passionen ist, in Konzerte, Theateraufführung und Kunstausstellungen zu gehen; es wurde dann auch mein Beruf, Konzerte und Festivals zu organisieren und zu gestalten. Was fehlt mir, wenn es das nun wahrscheinlich viele Monate, nicht mehr gibt?

Da nun schon einige Zeit ohne Konzerte verstrichen ist, erscheint es vielleicht gut, daran erinnern, wie sich ein Konzertbesuch anfühlt: Für die meisten ist dies etwas ganz Besonderes (einmal abgesehen von Musikkritikern, die, wenn sie jeden Abend in eine Veranstaltung gehen müssen, irgendwann einmal an Überdruss leiden). Auch heute, obwohl die früheren, konservativen Kleiderordnungen überwunden sind, gilt noch, dass ich mich irgendwie besonders kleide, die Alltagsklamotten wechsle, sei es ein Anzug bei einem klassischen Konzert oder ein schwarzes Metal-T-Shirt für das Rockfestival anziehe. Ich empfinde eine außergewöhnliche Vorfreude, bin gespannt, ob das, was ich erwarte, wofür ich eine teure Eintrittskarte gekauft habe, auch wirklich erfüllt wird. Wenn ich in den Konzertsaal, das Oper-Air-Gelände oder den Club betrete, fühle ich mich unter Menschen, die ähnliche Erwartungen und Gefühle haben. Ich fühle mich Ihnen deshalb zugehörig, obwohl ich sie in der Regel überhaupt nicht kenne.

Von der anderen Seite, nämlich von den Künstlern aus betrachtet, ist ein Konzert der Moment, auf den sie monatelang hingearbeitet haben. Die kommenden zwei Stunden entscheiden, ob gelingt, was sie erdacht und geprobt haben. Das ist eine ungeheure Spannung. Manche Künstler erfüllt eine enorme Nervosität. Der kleinste Fehler auf der Bühne, wenn zum Beispiel eine Blumendekoration dasteht, obwohl sie die Künstlerin abgelehnt hat, kann dazu führen, dass sie droht, den Auftritt zu sagen.

 

Vor der Quarantäne: Bei Konzerten fühlten sich die Menschen als Teil einer großen Erlebnisgemeinschaft

Naht der Auftritt, wird es ruhig im Saal, zumindest in einem klassischen Konzert. Dagegen ist die Stimmung in einem Rockkonzert laut und voller Vorfreude. Wie auch immer, alle erwarten ein außergewöhnliches Erlebnis. Wenn dann die Künstler auf der Bühne sind, ganz gleich ob es Musiker oder Schauspieler sind, spürt man ihre physische Nähe. Das ist etwas ganz anderes als ein Computer- oder ein Fernsehbildschirm. Wir spüren diese menschliche Nähe nicht nur zu den anderen Konzertbesuchern, sondern auch zu den Künstlern auf der Bühne. Wir wissen, oder glauben wenigstens zu wissen, dass das, was sich hier abspielt, wirklich ist, und werden daran erinnert, wenn der Nachbar neben uns hustet oder mit seiner Freundin tuschelt, oder wenn der Bogen des Geigers ein wenig kratzt oder der Schuh des Pianisten beim Drücken des Pedals quietscht.  Wenn dann beispielsweise die Solistin auf dem Klavier mit ihrer stupenden Virtuosität und außergewöhnlichen Musikalität alle Erwartungen erfüllt, die Menschen nach dem Konzert Bravo rufen und begeistert klatschen, dann sind alle glücklich, hat sie einen Sieg errungen, viele Menschen für sich gewonnen, ihre Bekanntheit vergrößert. Das Publikum erlebt etwas, das es erstaunen lässt, aus seinem Alltag reißt, etwas fühlen lässt, das es nicht für möglich gehalten hätte, bei dem es ihm kalt den Rücken hinabläuft. Eine ganz besondere Art der Kommunikation entsteht, die im Fall von Musik nicht über die Sprache abläuft, vielmehr nonverbal und deshalb viel direkter und intensiver ist. Die Menschen fühlen sich als Teil einer großen Erlebnisgemeinschaft.

Das gilt auch, wenn die Musiker einmal einen nicht so guten Tag haben, wenn sie langweilig oder gar unsicher spielen. Sie merken dann die Kühle unten im Publikum, die Enttäuschung. Doch gerade da das Konzert auch misslingen kann, ist es spannend und außergewöhnlich. Immerhin kann man über ein schlechtes Konzert noch tagelang gemeinsam schimpfen.

Dass jemand den Mut hat, viele Menschen mit seinem Können zu beglücken, ihnen seine Kunst zu präsentieren, dafür mit Aufmerksamkeit, Bekanntheit und Geld, manchmal viel Geld belohnt zu werden und sich dem Urteil der Öffentlichkeit zu stellen, ist seit vielen Jahrhunderten ein wichtiger Teil unserer Kultur,  und diese Art von Kultur hat archaische Wurzeln, die sicherlich noch viel weiter zurückreichen als der Wettstreit von Dichtern und Sängern während der olympischen Spiele im antiken Griechenland. In archaischen Zeiten ging es oft sogar um Leben und Tod, etwa beim spanischen Stierkampf, dessen Spuren in vorgeschichtliche Zeiten zurückreichen und der bis heute überlebt hat, oder bei den römischen Gladiatorenkämpfen im Circus maximus.

Heute ist das zumeist humaner. Aber noch immer schweißen Events das Publikum zu einer Gemeinschaft zusammen; noch immer geht es bei den Künstlern um wirtschaftliches Überleben, Bekanntheit, Ansehen, manchmal auch um Reichtum. So ist Kunst keineswegs nur etwas, was schön ist und Freude bereitet. Vielmehr hat sie immer auch den Charakter von Wettkampf. Gerade diese existenzielle Dimension unterscheidet professionelle Kunstausübung von der der Liebhaber und Dilettanten.

Die Corona Pandemie macht solche Ereignisse unmöglich. Die Stilllegung des Kulturlebens verhindert Gemeinschaft, Gemeinschaftserlebnisse, Konkurrenzkampf, Aufmerksamkeit, Berühmtheit. Dadurch wird die Existenz vieler Künstler bedroht oder gar zerstört. Sie deckt aber auch auf, dass Kultur mehr als die seit den 90er Jahren des 20. Jhs. so erfolgreiche Eventkultur ist.

 

Vor wenigen Monaten wäre es undenkbare gewesen, dass professionelle Künstler umsonst auftreten

Viele Musiker posteten in den letzten Wochen Videoclips, die sie beim Musizieren zu Hause zeigen. In Italien fing es an, dass zum Beispiel Opernsänger von ihren Balkonen herunter populäre Arien schmetterten. Vor wenigen Monaten wäre es noch undenkbar gewesen, dass professionelle Künstler umsonst auftreten, Hausmusik machen, Straßenmusik bieten. Man kann der Meinung sein, dass sie dadurch ihren Marktwert zerstören; denn, wenn sie jetzt umsonst spielen, Videos posten, die auch möglicherweise nach der Corona Krise verfügbar sind, warum sollte dann noch jemand Eintrittsgelder bezahlen oder CDs kaufen?

Doch diese Freude, ihre musikalische Kunst angesichts der lähmenden Corona Pandemie mit anderen Menschen zu teilen, ihnen das Gefühl des Miteinanders zu geben, zeigt, dass die Kunst nicht klein beigibt, und beweist, dass Kunst und Kultur nicht nur etwas mit Geld, Markt und Macht zu tun haben. Musiker üben ihre Kunst nicht wie Geschäftsleute aus, zumindest viele von ihnen, sondern für sie sind Musik, Tanz, Theater, Akrobatik und vieles mehr das Leben schlechthin, ohne das sie sich ihre Existenz gar nicht vorstellen könnten. Sie geben viele Menschen Freude und Hoffnung, indem sie ihre Kunst verschenken in einer Zeit, in der sie dringend als Hoffnung notwendig ist.

Gewiss, nicht alle posten Videos nur aus rein künstlerischen Gründen; denn YouTube und die anderen sozialen Medien werden nun zur eigentlichen Arena für den Kampf um Aufmerksamkeit. Vielleicht setzt sich nun die Verlagerung der Events in das Web durch. Einige, zum Beispiel der Pianist Igor Lewit haben sich zu YouTube-Stars mit so vielen Followern entwickelt, dass sie mit manchen populären Influenzern konkurrieren können. Das wird sich möglicherweise auch wirtschaftlich auszahlen.

 

Der kulturelle Stillstand der Corona-Pandemie eröffnet andere, eventfreie Wege zur Kultur.

Der kulturelle Stillstand der Corona-Pandemie eröffnet allerdings auch andere, eventfreie Wege zur Kultur. Notgedrungen, aber dennoch dankbar genieße ich die Ruhe von Terminen, beruflichen Reisen, Sitzungen. Jetzt kann man endlich ein ganzes Buch lesen. Man kann sich in Ruhe vor seine Stereoanlage setzen, ein Glas Wein neben sich stellen und zum Beispiel eine Symphonie von Beethoven anhören. Gewiss fehlt nun das Gemeinschaftserlebnis. Aber es hustet nun auch niemand. Man wird nun auch nicht abgelenkt von den vielen Menschen in einem Konzertsaal. Die Chancen sind also gut, sich ganz auf die Musik, das Theaterstück oder ein Buch zu konzentrieren, in die Tiefe gehen zu können.

So hat der kulturelle Stillstand während der Corona Pandemie nicht nur negative Seiten. Für die Zeitspanne, in welcher der Virus nicht durch eine Impfung oder durch Medikamente besiegt werden kann, entsteht ein radikaler Bruch dessen, was in den letzten Jahrzehnten primär als Kulturleben empfunden wurde. Nun ereignet sich Kultur nicht mehr vorrangig in der Öffentlichkeit, sondern im Privaten. Nicht mehr die Gemeinschaft wird betont, sondern der individuelle Zugang.

Es kann durchaus sein, dass dieser neue Zugang auch nach der Corona Pandemie seine Bedeutung behält, vielleicht nicht in dem Maße wie jetzt, aber spürbar. Dann werden möglicherweise auch neue Formen des Wirtschaftens und der „Arena“, die bisher der Konzertsaal oder das Opern-Air-Konzert waren, entstehen.

So sehr die Corona Pandemie jetzt die wirtschaftliche Basis von Künstlern zerstört, es werden sich doch auch neue Perspektiven entwickeln. Denn diese Krise ist nicht nur ein kultureller Stillstand, vielmehr ist Kunst immer so lebendig und kreativ, dass sie neue Wege sucht und findet.