Wenn mein aus Nigeria stammender Freund einmal wieder eine halbe Stunde zu spät kommt, entschuldigt er sich lächelnd damit, dass für ihn die „afrikanische Zeit“ gilt. Soll ich auf Pünktlichkeit bestehen oder von der Gelassenheit Afrikas lernen? Auch er weiß, dass Pünktlichkeit für uns in Deutschland wichtig ist. Doch wir sehen die Unterschiede hinsichtlich unseres Umgangs mit Zeit humorvoll. Allerdings könnte mein Freund auch auf Menschen treffen, die keinen Spaß verstehen und verlangen, dass er sich der deutschen Kultur unterordnen müsse.

Seit nunmehr über zwanzig Jahren wird diese Idee einer deutschen Leitkultur immer wieder ins Feld geführt. In der CDU brachte sie der junge Abgeordnete Philipp Amthor im letzten Jahr wieder aufs Tapet.[1] Bei der AFD steht sie im Parteiprogramm.[2]

Was ist Leitkultur?

Leitkultur ist ein heikler Begriff, da er eine klare Aussage, nämlich „leiten“, mit etwas Diffusem, dem Wort „Kultur“, verbindet, für das es nahezu unendlich viele Definitionen gibt. Als 1998 Bassam Tibi den Begriff „Leitkultur“[3] in die politische Diskussion einführte, meinte er etwas ganz anderes als die konservativen Politiker. Er wollte eine „Europäische Leitkultur“ etablieren, die er mit dem Vorrang der Vernunft vor religiösen Vorstellungen, mit Demokratie, mit der Trennung von Politik und Religion, Pluralismus und Toleranz umschrieb.  Doch deutsche Politiker setzten andere Akzente. So forderte Friedrich Merz wenige Jahre später eine „deutsche Leitkultur“. Was darunter genau zu verstehen ist, wird bis heute nur ziemlich unscharf definiert. Sprache, Geschichte, Traditionen und die christlich-abendländischen Werte werden oft genannt oder einfach das Schütteln der Hand (das freilich während der Corona-Pandemie obsolet wurde). Für die AFD gehören die „Werte des Christentums, der Antike, des Humanismus und der Aufklärung“, „deutsche Sprache“, „unsere Bräuche und Traditionen, Geistes- und Kulturgeschichte“[4] zur Leitkultur.

Der Feind, den die Anhänger von Leitkultur ausgemacht haben, ist der Multikulturalismus. „Multikulti führt in Parallelgesellschaften und Multikulti bleibt damit eine Lebenslüge,“ sagte Angela Merkel 2015 bei einem Parteitag der CDU.[5]

Die Politiker von CDU, CSU und AFD deuteten Tibis „Europäische Leitkultur“ um. Ihnen geht es nicht primär um kulturellen Dialog, Toleranz und Pluralismus. Vielmehr wollen sie mit Leitkultur bestimmen, wer der Herr im Haus ist, also, dass die Flüchtlinge sich unserer Kultur anpassen und ihre eigene aufgeben müssen. Es geht um Macht.

Kultur und Macht

Damit bringt das Wort Leitkultur etwas ins Spiel, was Menschen schon immer mit Kultur machten, bevor es dieses Wort überhaupt gab: Sie setzen sie als Machtmittel ein. Die griechischen Staaten der Antike blickten auf die Bewohner anderer Länder als Barbaren herab. Die christlichen Herrscher in Mittelalter, Renaissance und Barock rechtfertigten Missionierung und Kolonialisierung mit ihrer christlichen Kultur. Die Verfolgung und Vertreibung von Juden etwa durch die spanische Inquisition wurde mit christlichen Werten begründet. Der Islam eroberte ein riesiges Reich im Namen Allahs. Die amerikanischen Siedler sahen in den schwarzen Sklaven und indianischen Ureinwohnern Menschen zweiter Klasse, deren kulturelle Traditionen, Musik, Kunst und Dichtung sie durch „Umerziehung“ auszulöschen versuchten. Die Chinesen betreiben eine solche grausame Umerziehung gegenwärtig mit den Uiguren. Doch in unserer Zeit gibt es nicht nur um staatliche, sondern auch um wirtschaftliche Macht. Große Firmen wie Facebook oder Amazon schieben kulturelle Werten wie Freiheit oder soziale Kommunikation in den Vordergrund, um weltweit den Markt zu beherrschen.

Doch mit Leitkultur wird nicht nur Macht über Menschen anderer Hautfarbe, anderer kultureller Traditionen, anderer Sprache, einer anderen Zivilisation angestrebt, sondern auch über die Bewohner des eigenen Landes. Dies geschieht, indem man eine nationale Kultur konstruiert, die für alle Bewohner verbindlich ist. Im AFD-Wahlprogramm steht der etwas schwer verständliche Satz: „Kultur ist nur als etwas wechselbezügliches Ganzes von Gesellschaften zu verstehen.“ Was ein „wechselbezügliches Ganzes“ ist, soll einmal dahingestellt werden. Auf jeden Fall geht es um ein „Ganzes“, also es wird unterstellt, dass in einem Land oder einer Nation e i n e Kultur herrschen müsse und dass jedes Land seine eigene Kultur habe und diese „geschützt“ und „eigenständig weiterentwickelt“ werden müsse. Leitkultur ist damit auch ein Machtinstrument nach innen. Wie sich dies auswirkt, kann zum Beispiel in Ungarn und Polen beobachtet werden, wo Künstler nicht mehr frei arbeiten können, wenn sie gegen die kulturellen Vorstellungen der Regierung verstoßen.

Verfechter von Leitkultur sind zumeist überzeugt, dass ihre eigene Kultur überlegen ist. Auch das lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Das altgriechische Wort „Barbar“ bedeutete zunächst nur, dass die Fremden nicht griechisch sprachen, man sich also nicht mit ihnen verständigen konnte. Ab dem 6. Jh. v. Chr. bedeutete Barbar dann auch, dass diese Menschen kulturell unterlegen sind. Aus Fremden wurden Menschen zweiten Grades. Bei den Römern waren Barbaren Menschen ohne Bildung. Die Christen bezeichneten Heiden als Barbaren, auch wenn sie – wie die Araber – eine überlegene Zivilisation hatten. Hier erhielt das Wort also eine religiöse Bedeutung, rechtfertigte Kreuzzüge und oft mit Gewalt verbundene Missionierung. Die Eroberer der Kolonien sahen in den Indianern Wilde ohne Verstand und Menschlichkeit; die schwarzen Sklaven galten als Ware. Mit dem Gefühl kultureller Überlegenheit konnte man die Vertreibung und Ausrottung der indigenen Bevölkerung ebenso rechtfertigen wie den Menschenhandel.

Eines der Hauptprobleme von Leitkultur ist, dass dabei Kultur – in welcher Form auch immer – als Machtmittel eingesetzt wird. Dadurch entsteht ein Verhalten voller Heuchelei, denn es werden eigentlich positive Dinge – sei es Bildung in der Antike, die christliche Religion mit dem Gebot der Nächstenliebe oder die Regierungsform der Demokratie – vorgeschützt, um in Wirklichkeit ganz andere Ziele zu verfolgen: Die Römer rechtfertigten so ihr Imperium, die christlichen Kolonialherren die Ausbeutung fremder Länder, der demokratische Westen den Zugang zu Bodenschätzten, insbesondere dem Erdöl. Kultur diente als Maske des Guten, hinter der sich Machtpolitik tarnt.

Alternative zur Leitkultur: Dialog

Zur Leitkultur gab es schon immer Alternativen, nämlich wenn Kultur nicht als Machtmittel, sondern als Medium für Dialog eingesetzt wird. Das bedeutet freilich, sich von einigen Denkformen zu verabschieden. Die eigene Kultur darf dann nicht dazu dienen, Grenzen zwischen den Dazugehörenden und den Fremden zu markieren. Kultur muss dann als dynamisch angesehen werden, als etwas, das sich ständig weiterentwickelt und offen ist für neue Einflüsse und Impulse. Kultur in diesem Sinn verstanden, dient nicht primär dazu, eine feste Identität zum Beispiel einer Nation zu schaffen. Auch darf Identität dann nicht als etwas Starres gesehen werden; denn kultureller Dialog bedeutet, dass jeder bereit ist, sich zu ändern und weiterzuentwickeln. Kultur ist somit nicht eine fixierte Tradition, sondern ein kreativer Weg in die Zukunft.

Versuche, die Grenzen der eigenen Kultur zu überwinden, gab es im Verlauf der Geschichte immer wieder, sogar in Zeiten des Krieges. Während der Kreuzzüge und der spanischen Reconquista begannen im 13. Jh. zwei Herrscher einen kulturellen Dialog mit den Feinden: Kaiser Friedrich II. in Sizilien und Alfonso X. in Toledo. Beide setzten sich mit arabischer Kultur auseinander und beschäftigten an ihrem Hof neben den christlichen Gelehrten, Künstlern und Musikern, auch arabische und jüdische.

Allerdings blieben im Verlauf der Geschichte solche Fenster zu Toleranz und Dialog vonseiten der Herrscher nie allzu lange geöffnet. Nach dem Erfolg der Reconquista und der Besiegung der Mauren setzte die Verfolgung von Juden und Heiden durch die Inquisition in Spanien ein. Auf die Aufklärung folgte im 19. Jh. der Nationalismus, der zu einer verstärkten kulturellen Abgrenzung führte.

Etwas verallgemeinernd kann man feststellen, dass das Prinzip „Kultureller Dialog“ in Friedenszeiten vorherrscht, während das Prinzip „Leitkultur“ dann an Dominanz gewinnt, wenn Aggression, Terror und Krieg in den Vordergrund treten. Das ließ sich bei der Flüchtlingskrise 2015-2016 beobachten: Anfangs wurden die Flüchtlinge aus Syrien mit großer Gastfreundschaft begrüßt. Doch diese „Willkommenskultur“ wurde nach einigen Monaten von Fremdenhass abgelöst. Die AFD erstarkte und die Leitkultur war wieder gefragt. Die öffentliche Meinung wurde nun von Urteilen dominiert, die in den Flüchtlingen fremde Eindringlinge, Messerstecher und Vergewaltiger sahen, nicht aber vom Schicksal gebeutelte Menschen. Europa, das sich kulturell als Hort der Humanität definiert, weigerte sich, Flüchtlinge aufzunehmen und ließ sie beispielsweise im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos unter menschenunwürdigen Umständen festsetzen.

Die Verfechter der Leitkultur haben offenbar wieder einmal die Oberhand gewonnen. Doch gleichzeitig gibt es und gab es immer Menschen, die den kulturellen Dialog trotz aller Schwierigkeiten pflegen. Sie versuchen so, das Zusammenleben von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen zu ermöglichen, und leisten dadurch einen Beitrag zum Frieden.

 

 

[1] Philipp Amthor plädiert für neue Leitkulturdebatte, in: Die Zeit online, 17.02.2020: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-02/philipp-amthor-junge-union-leitkultur-cdu-extremismus (abgerufen: 06.05.2021).
[2] AFD, Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2017, S. 47: https://www.afd.de/wp-content/uploads/sites/111/2017/06/2017-06-01_AfD-Bundestagswahlprogramm_Onlinefassung.pdf (abgerufen: 06.05.2021).
[3] Bassam Tibi: Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft, München 1998, (Neuausgaben 2000/2002 mit dem Untertitel: Leitkultur oder Wertebeliebigkeit)
[4] AFD, Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2017, S. 47.
[5] Angela Merkel: „Multikulti bleibt eine Lebenslüge“, Pressemeldung von Reuters, in: Die Presse, online, 14.12.2015: https://www.diepresse.com/4886864/merkel-multikulti-bleibt-eine-lebensluge (abgerufen am 07.05.2021).