Hildegard von Bingen und die Frauenemanzipation im Mittelalter

 

Musikerinnen der Antike: Priesterinnen oder Prostituierte
Es erscheint paradox, dass trotz des Verdikts von Apostel Paulus, Frauen hätten in der Kirche zu schweigen, Frauen als Musikerinnen erstmals in Klöstern ihren Wirkungskreis fanden. Allerdings war diese frühe musikalische Frauenemanzipation bis zum 10. Jh. auf die Ostkirche, also auf Byzanz beschränkt, und entwickelte sich erst ab dem 11. Jh. auch in Westeuropa.
Die Ablehnung von Musikerinnen durch die christlichen Kirchenväter hat eine Vorgeschichte in der antiken griechischen und römischen Kultur. Dort waren Frauen, die professionell Musik machten, Hetären, also Prostituierte, die geistreich mit Gesang, Tanz und Aulosspiel die Männer unterhielten, oder sie waren Priesterinnen der Kybele, der großen Göttermutter, und manchmal auch beides: in den Tempeln der Aphrodite waren die jungen Priesterinnen zugleich sakrale Prostituierte. Die Musik der antiken Künstlerinnen war sinnlich und oft orgiastisch. Im Rom der Kaiserzeit gab es Mysterien für die Erd- und Fruchtbarkeitsgöttinnen. Berufsmusikerinnen sangen Beschwörungs- und Klagelieder. Traten Musikerinnen im weltlichen Bereich auf, waren sie zumeist auch Prostituierte. Viele dieser Musikerinnen wurden von Händlern und Offizieren als Sklavinnen aus den ferneren Provinzen des römischen Reiches eingekauft. Zur Zeit des Kaisers Gratianus wirkten über 3000 Musikdirnen im Rom.

Klosterschwestern als Musikerinnen
Die christlichen Kirchenväter verurteilten die antike Musikkultur, da sie ihnen einerseits als heidnisch, andererseits als moralisch verwerflich erschien. Streng patriarchalisch bekämpften sie den Einfluss von Frauen als Priesterinnen oder als Künstlerinnen in der damaligen Gesellschaft. Mit dieser strikten Abkehr von der Antike ist das Gebot des Apostels Paulus „Mulier taceat in ecclesia“ zu verstehen. Es bewirkte, dass Frauen weitgehend aus dem öffentlichen Raum verbannt wurden. Doch diese Kampagne der Kirchenmänner dauerte sehr lange: Erst mit der Hexenverfolgung durch die Inquisition konnten diese alten, in vorgeschichtliche Zeiten zurückreichenden Traditionen schließlich im 18. Jh. ausgerottet werden.
An der Hagia Sophia gab es um 400 n. Chr. 60 Diakonissinnen, die mit Psalmengesang und Totenklagen viele Menschen anzogen. Namentlich bekannt ist Macrina, die ein Frauenkloster gründete. In dieser Tradition stand auch Kassia (um 810-865). Sie stammte aus einer angesehenen Familie. Kaiser Theophilus soll interessiert gewesen sein, sie zu heiraten. Kassia ging aber ins Kloster und widmete sich dort ganz der Musik und Dichtung. Sie komponierte über 50 Hymnen, die in den liturgischen Büchern der orthodoxen Kirche übernommen wurden, außerdem verfasste sie über 260 Epigramme, in denen sie zum Teil sehr kritisch über die Rolle der Männer schrieb.
In Westeuropa erlangten die Frauen erst während der Kreuzzüge eine größere Eigenständigkeit. Da in dieser Zeit ein Mangel an Männern herrschte, traten zahlreiche Frauen in die vielfach neu gegründeten Frauenklöster ein, wo es Ihnen möglich, Bildung zu erlangen, also lesen und schreiben zu lernen, und sich mit den Schriften von Philosophen und Wissenschaftlern auseinanderzusetzen. In diesen Klöstern entwickelte sich auch ein reiches, von Frauen getragenes Musikleben. Im zwölften Jahrhundert erlangten die Frauenklöster als Zentren für Medizin, Landbau, christliche Mystik und die Künste eine hohe Bedeutung. Frauen sahen in der Musik die Möglichkeit, unmittelbar mit Christus in Verbindung zu gelangen. Für sie war das Klosterleben eine Art Minnedienst für Jesus. Durch Dichtung und Musik gelangten sie in Verzückung und Ekstase. So wird von einer Sanges-Meisterin berichtet, dass sie durch ihren Gesang den heiligen Konvent „sinnenlos“ gemacht habe, so dass alle Schwestern „niederfielen wie die Toten“, wie Eva Weissweiler in ihrem Buch Komponistinnen aus 500 Jahren überliefert (S. 35). Mystikerinnen wie die Rotterin Albeit und Hildegard von Bingen zogen und ziehen bis heute viele Menschen in ihren Bann. Hildegard von Bingen leitete als Äbtissin eines der einflussreichsten Frauenklöster. Sie kämpfte hartnäckig gegen die Auflagen des männlichen Klerus. Als die Kirchenmusik an ihrem Kloster verboten wurde, wehrte sie sich dagegen.
In den folgenden Jahrhunderten konnten Frauen als Cantrix in Klöstern eine professionelle Musikerinnenkarriere erreichen. Im Nonnenchor der Klosterkirche der Zisterzienserinnen in Wienhausen zeigen die Malereien musizierende Frauen mit verschiedenen Instrumenten. Wie das Wienhäuser Liederbuch belegt, gab es an diesem Kloster eine rege Musikpflege, die allerdings durch Verbote der Amtskirche gefährdet war. So wurde 1470 durch eine gewaltsam durchgeführte Klosterreform das Instrumentalspiel und Singen der Nonnen von Wienhausen verboten.

Barock: Orchester und Chöre in Frauenklöstern – virtuose Solistinnen
In norditalienischen Klöstern lebte diese Tradition des Musizierens von Nonnen weiter. Dort wirkten Komponistinnen wie Vittoria Aleotti (1475- nach 1646), Caterina Assandra (um 1590- nach 1618), Chiara Margarita Cozzolani (1602-1676) oder Isabella Leonarda (1620-1676). In diesen Klöstern wurden oft Werke in großen Besetzungen mit Gesang und Orchester aufgeführt. Wie die erhaltenen Noten zeigen, komponierten diese Nonnen auf einem sehr hohen Niveau.
Eine Variante dieses Musizierens an Frauenklöstern waren die venezianischen Mädchen-Ospedali. Da die verwaisten oder aus schwierigen Verhältnissen stammenden Mädchen keinen Beruf lernen durften, wurden sie in Musik ausgebildet. Diese Ausbildung war so vorzüglich, dass die jungen Mädchen professionell und virtuos musizierten. Ihre Konzerte waren eine große Attraktion in Venedig und zogen Zuhörer aus ganz Europa an. Antonio Vivaldi war ab 1703 Violinlehrer am Ospedale della Pietá. Für seine Zöglinge komponierte er viele seiner Werke, darunter allein 30 Violinkonzerte für seine Schülerin Anna Maria dal Violin. Da diese Konzerte virtuose Ansprüche stellen, zeigt dies, auf welch hohem Niveau in diesem Waisenhaus musiziert wurde.
Begabte Musikerinnen, die in diesem Beruf arbeiten wollten oder mussten, hatten vom Mittelalter bis ins 17. Jh. nur zwei, sehr gegensätzliche Möglichkeiten: entweder Kloster oder Kurtisane. War die erstere ihr Schicksal, mussten sie auf Freiheiten verzichten, waren aber versorgt und konnten sich der ernsten Musik – der Kirchen- und Instrumentalmusik – widmen, führten sie das Leben einer Kurtisane, waren sie frei von kirchlichen Zwängen, konnten Liebhaber in den höchsten gesellschaftlichen Schichten erobern, Reichtum erlangen oder aber auch in sozialen Abgründen enden.
Franzpeter Messmer

 

Verwendete Literatur:
Eva Weissweiler: Komponistinnen aus 500 Jahren, Frankfurt 1981.
Hans Peter Duerr: Diesseits von Eden – Über den Ursprung der Religion, Berlin 2020.

Mänade im Gefolg des Dionysos mit der Rahmentrommel, attische Pelike, um 430 v. Chr., Staatliche Antikensammlung München
Kassia (um 810- um 865): Äbtissin, Dichterin und Komponistin in Konstantinopel
Hildegard von Bingen. Der rote Strahl von oben zeigt, wie sie eine göttliche Inspiration empfäng. Sie diktiert sie ihrem Schreiber, dem Mönch Vollmar, Liber Scivias, Rupertsberger Codex (um 1180)
Ospedale de la Pietà in Venedig