Die Corona-Pandemie und die Verletzlichkeit menschlicher Kultur

Ich gebe es zu: Noch bis Anfang März 2020 habe ich geglaubt, dass wir jetzt im 21. Jahrhundert keine Angst vor irgendwelchen Epidemien haben müssen, obwohl sich schon damals das Virus ausbreitete. Doch ich war wie sicherlich viele andere überzeugt, dass die moderne Medizin gegen alles ein Mittel hat und das Zeitalter der Pest längst überwunden wäre. Deswegen haben die Menschen zum Beispiel in Ischgl oder bei der Spring Break in Florida ausgelassen weitergefeiert. Dann sah ich die Fernsehbilder von den Krankenhäusern in Italien, Frankreich, Spanien und schließlich New York. Ich sah, wie Menschen sterben, ohne dass ihnen geholfen werden kann, wie in einem New-Yorker Krankenhausinnenhof Sarg neben Sarg stand und wie mit Gabelstaplern die Särge in Kühlwägen eingeladen werden. Plötzlich war die Welt eine andere, erfüllt von Angst vor einem unsichtbaren, mikroskopisch kleinen Virus. Die Straßen sind menschenleer. Das Leben erstirbt. Wir gehen auf Distanz zueinander, verhüllen das Gesicht hinter Masken. Es gibt keine Konzerte mehr. Musik ist für mich ganz wesentlich. Dass sie nun nicht mehr im öffentlichen Raum erklingen kann, wirkt bedrohlich.

Vor dieser Corona-Pandemie hatten wir Menschen das Bewusstsein, allmächtig zu sein, wir glaubten, die Welt zu beherrschen – im Guten wie im Schlechten. 2016 schlugen Wissenschaftler beim 35. Internationalen Geologischen Kongress in Kapstadt vor, ein neues Erdzeitalter, das Anthropozän, zu definieren, da der Mensch inzwischen zur treibenden Kraft geworden ist, sei es beim Klimawandel, bei der Ausrottung unzähliger Tierarten, bei der Veränderung der Vegetation durch die menschliche Landwirtschaft, beim Zurückdrängen des Landes durch die immer größer werdenden Städte, Industriegebiete, Straßen, Kanäle und bei vielem mehr. Es schien, dass die Natur von menschlicher Kultur besiegt worden ist.

Dann kam das unsichtbare Virus und brachte alles zum Stillstand. Nun scheint die Idee vom Anthropozän nicht mehr ganz so überzeugend. Vielmehr zeigt sich, dass sich die Natur nicht so leicht beherrschen lässt. Auf der ganzen Welt arbeiteten Virologen, Impfstoffentwickler, Biologen und viele weitere Wissenschaftsdisziplinen fieberhaft, um das Virus zu erforschen, eine Medizin und eine Schutzimpfung gegen es zu finden, was erstaunlich schnell gelang. Doch währenddessen starben über zwei Millionen Menschen.
Was bedeutet das für die Kultur? Kultur ist fast so vielfältig wie unser Leben, weshalb man keine allgemein gültige Aussage machen kann. Ich versuche es mit einigen Beispielen:

Reaktionen auf das Virus:
Verdrängen, Verleugnen, Verschwörungstheorien

Die erste Reaktion auf das Virus ist Verdrängen. Auch ich reagierte so, ebenso wie viele andere, auch diejenigen, die in den bereits erwähnten Hotspots in Ischgel oder Florida unbekümmert weiterfeierten.

Die zweite Stufe ist Leugnen. Das führte dazu, dass Alpha-Männer wie der brasilianische Präsident Bolsonaro, der britische Premier Johnson und US-Präsident Trump weiterhin Hände schüttelten, um zu zeigen, dass dieser Virus gar nicht so gefährlich ist. Mit ihrer „heldenhaften“ Weigerung, Angst zu zeigen, demonstrierten sie medienwirksam Macht. Solche Inszenierungen waren ein wichtiger Faktor in der politischen Kultur nicht nur in vergangenen Jahrhunderten, sondern sind es auch in unserem Medienzeitalter. Allerdings entpuppte sich bei Boris Johnson diese Furchtlosigkeit als Leichtsinn. Er steckte sich an und rang mit dem Tod. Die Machtdemonstrationen der neuen Alpha-Männer-Generation wirkt im Angesicht der Pandemie lächerlich, ja makaber.

Die dritte Stufe sind Verschwörungstheorien, die ins Kraut wachsen. Sie machen irgendwelche angeblich böse menschlichen Mächte, sei es China oder den Kapitalismus, für das Virus verantwortlich. Das ermöglicht, am Glauben menschlicher Allmacht festzuhalten; denn nicht die Natur ist schuld, sondern der Mensch, nämlich der „böse“ Feind. Solche Fake-News werden in unserer neuen Kultur der sozialen Medien immer bedeutsamer und ersetzen Vernunft durch ein neuzeitliches Voodoo, das den Gegner auf größte Entfernung zumindest virtuell, möglichst aber auch wirklich bekämpfen soll.

Eingeständnis, dass der Mensch von der Natur abhängig ist

Eine andere Reaktion, die aber nur selten zu beobachten ist, wäre das Eingeständnis, dass der Mensch gar nicht so mächtig ist, wie vor der Corona-Pandemie angenommen wurde, vielmehr dass auch er von der Natur abhängig ist. Schon bevor diese Pandemie ausbrach, gab es Forschungsansätze, die diese Zusammenhänge auf vielen Gebieten aufdeckten, nicht nur hinsichtlich des Klimawandels, sondern beispielsweise auch in der Geschichtsforschung. So zeigt Kyle Harper in seinem Buch „Fatum“, dass das römische Reich nicht allein aufgrund von Menschen gemachter Geschichte, vielmehr ebenso aufgrund von Epidemien, insbesondere der Pest im 5.-7. Jahrhundert n. Chr., und des Klimawandels, nämlich der Kleinen Eiszeit, untergegangen ist. Ich möchte keineswegs eine Parallele zwischen dem Untergang des römischen Reiches und unserer Zeit ziehen, aber eines ist doch klar: Wir haben bislang in menschlicher Hybris den Einfluss der Natur auf unser Leben und unsere Kultur unterschätzt.
Um diese Pandemie zu beenden, gibt es nur einen Weg: Wissen. Doch Wissen erlangt man nur durch Forschung und Forschung ist mit einem Herantasten, Versuchen, die oft ein negatives und manchmal glücklicherweise ein positives Ergebnis haben, verbunden. Da das Virus neu ist, da die Situation völlig unbekannt ist, gibt es kein festes Fundament. Mathematische Modelle müssen korrigiert, verfeinert und manchmal ganz neu aufgestellt werden. Doch eines ist sicher: Es geht hier um Irrtum und Wissen, nicht um Politik und auch nicht um Kunst.

Das Wissen, das die Virologen haben, oder besser: das Nichtwissen um die genauere Struktur dieses Virus, ergab als Schutzmaßnahme nur eine Möglichkeit: die Isolation der Menschen, so dass keine Ansteckung mehr möglich ist. Der Lock down führte zu einer Umkehrung des bisherigen kulturellen Profils. Bestimmte die Zeit vor Corona die Maximierung des Konsums, Kultur als Event, so ist es nun umgekehrt. Es herrscht Verzicht. Wurde vor Corona alles outgesourct, z.B. die Kindererziehung, das Kochen, die Zerstreuung in Clubs, der Sport in Fitness-Studios, so geschieht nun wieder alles zu Hause und in der Familie. Es gibt keine Kindergarten, keine Schule, keine Konzertbesuche.
Die Menschen ertrugen dies anfänglich ohne allzu viel Murren. Doch mittlerweile gibt es einen großen Aufschrei und merkwürdige Diskussionen. Das Virus bedroht die Grundrechte, heißt es. Manche stellen ihr Recht auf Freiheit vor den Schutz der Gemeinschaft vor Ansteckung. Der wirtschaftliche Erfolg wird für wichtiger gehalten als der Schutz des Lebens. Einige sagen, man könnte die alten Menschen, die sowieso nicht mehr lange leben würden, opfern, um die Freiheit und wirtschaftliche Prosperität vor Corona wieder genießen zu können. Die Humanität, die christliche Nächstenliebe, die viele als Kern Europas ansehen, wird aufgegeben. Bis in die Mitte der Gesellschaft treten nun harte, egoistische und grausame Ansichten.

Psychogramm einer Gesellschaft, die sich plötzlich ihrer Ohnmacht bewusst wird

Diese Entwicklung ist das Psychogramm einer Gesellschaft, die sich plötzlich ihrer Ohnmacht bewusst wird. Trotzig wird gefordert, das Virus zu hinterfragen. Den Virologen wird eine Diktatur vorgeworfen. Man vermutet, dass das Virus demokratiefeindliche Entwicklungen einleitet, wehrt sich gegen die Nachverfolgung von Kontakten mit Apps für Smartphones, da das Recht auf Datenschutz verletzt wird. Menschen, die bisher im Schatten standen, schlecht bezahlt wurden, nämlich z.B. Krankenschwestern oder Kassiererinnen, werden zu Helden stilisiert, da sie viel zur Rettung aus der Katastrophe beitragen. Solche Berufsgruppen werden nun als „systemrelevant“ bezeichnet und es gibt einen Wettstreit darum, wer systemrelevant ist. So posten in Facebook Musiker, dass sie auch systemrelevant seien. Menschen fühlen sich eingesperrt, spüren eine Art Lagerkoller, manche rebellieren und pochen auf ihr Recht, zu demonstrieren.

Viele Menschen benehmen sich wie verwöhnte Kinder, die erstmals auf das wirkliche Leben stoßen. Doch das Virus ist hart. Es kümmert sich weder um Demokratie, Datenschutz, Grundrechte, Debattenkultur oder Kunst. In diesen Zeiten sind nun einmal Krankenschwestern und Ärzte wichtiger als z.B. Pianisten. Obwohl ich selbst Musiker bin, muss ich das anerkennen; denn ich kann keinem Corona-Kranken mit schweren Symptomen durch ein Violinsolo helfen, wohl aber ein Intensivmediziner.

Respekt vor der Natur könnte helfen, um die viel schwierigere Klimakatastrophe, die uns bevorsteht, besser bewältigen zu können.

Das Virus bedroht und zerstört vermutlich viele Existenzen. Es zeigt, dass die Natur durchaus zurückschlägt. Sie ist nicht nur schön und gut, wie sie in der Sehnsucht der Stadtmenschen seit dem Barock erscheint. Vielmehr muss man vor ihr Respekt haben, einen Respekt, der vor Corona vielfach fehlte. Dieser Respekt könnte vielleicht auch helfen, um die viel schwierigere Katastrophe, die uns bevorsteht, besser bewältigen zu können.

Sind die Menschen lernfähig? Gewiss, unsere Kultur beruht in vielen Bereichen auf Lernen. Aber gleichzeitig bedeutet Kultur eben auch das zu pflegen, was Tradition und Gewohnheit ist. Wenn ich sehe, wie sehr die Menschen bei Corona mit der Verdrängung, mit der Leugnung dem Virus begegnen, der mitten unter uns ist, dann sehe ich durchaus die Gefahr, dass eine Klimakatastrophe, die vielleicht erst 2050 eintritt, deren Ausbruch wir aber bereits jetzt verhindern müssen, nicht mit dem gehörigen Respekt behandelt wird und dass die Menschheit in sie hineinschliddern wird und sie vielleicht noch immer leugnen wird, selbst wenn sie mitten in ihr steckt.

Doch man sollte nicht nur pessimistisch sein: Vielleicht ist Corona eine gute Vorübung auf Verzicht und auf das Ernstnehmen von Fakten. Die Corona-Pandemie zeigt, wie eng heute die ganze Welt verzahnt ist. Sie hat uns auch die Grenzen und Gefahren einer Globalisierung gelehrt, deren Motor vor allem neoliberale Profitmaximierung ist. Vor allem könnte sich nun die Erkenntnis durchsetzen, dass der wirtschaftliche Schaden einer Katastrophe viel größer ist als die Kosten für deren Verhütung und Eindämmung.

Was bedeutet das für unsere Kultur? Eines steht fest, sie wird sich ändern müssen. Es wird wieder mehr um Tiefe gehen, weniger um Events. Individuelle Zugänge werden wichtiger werden. Das Internet bietet dazu viele Möglichkeiten. Aber ob diese Möglichkeiten das Überleben von Künstlern sichern können, erscheint eher fraglich. Neue Wege der Finanzierung von Kultur müssen entwickelt werden. Vielleicht bildet sich erst jetzt nach den Naugthies, den frechen Nullerjahren, und der großen kulturellen Party des 2. Jahrzehnts eine Kultur im 21. Jahrhundert, welche die Bedrohung und die Chancen unserer Existenz am Abgrund der Katastrophen spiegelt.