Vor Trondheim, 14. September 2016
Wir verbringen einen Regentag auf dem Schiff, fahren durch Nebellandschaften, sehen Berge, die sich in grauen Wolken verlieren, Inseln aus dem Nichts auftauchen und fühlen uns an japanische Tuschmalereien erinnert.
An so einem Tag wird das Schiff zum Lebenszentrum. Wir umrunden es an der Reling auf Deck 5. Dabei begegnet uns immer wieder eine sehr schlanke ältere Dame, die im Eilschritt, fast im Dauerlauf an die zehn Mal wie ein Tiger im Käfig hin- und herläuft. Überhaupt, der Altersdurchschnitt ist hoch. Das wird insbesondere auf Deck 7 deutlich. Dort gibt es vorne einen Ruheraum unter einer Glaskuppel mit großartiger Aussicht. Die Liegestühle dort sind meistens belegt mit Menschen über achtzig. Viele sind eingeschlafen, manche dösen vor sich hin, nur wenige schauen wach hinaus auf das Meer. Es ist eine Atmosphäre wie auf dem Zauberberg von Thomas Mann. Unser Zauberschiff ist also eine Art Kahn Charons in die Unterwelt. Doch zunächst kommen wir uns eher wie im Himmel vor, nämlich auf einer Insel der Schönheit, der Naturbetrachtung, der Entschleunigung, kulinarischer Genüsse und der Distanz zur bisweilen schrecklichen Welt.
Die Inselbewohner haben am ersten Tag arg gefremdelt, schauten einander nicht in die Augen, grüßten kaum und lächelten fast nie. Es sind ältere Ehepaare, für die diese Reise ein Höhepunkt, vielleicht der letzte ihres Lebens ist, verlassene Ehefrauen und –männer, sei es durch den Tod oder die Scheidung, nur wenige jüngere, für die diese Reise ein großes Abenteuer zu sein scheint. Dies gilt vor allem für eine türkische Familie, die vielleicht diese Reise zu einem großen Facebookevent herausputzt: der Vater hat eine Spiegelreflexkamera mit einem riesigen Teleobjektiv, der Sohn eine kleinere Kamera und einen Rekorder für Filmaufnahmen mit einem biegsamen Stativ, das er an der Reling festklemmt, Frau und Tochter fotografieren und Filmen mit dem Handy. Sie tun dies mit professionellem Ernst.
So will sich also keiner vom anderen stören lassen in dem Ziel, eine Insel zu sein, fernab des Alltags. Manche sind schon richtige Experten, sie haben die Tour mehrere Male gemacht und korrigieren die anderen sofort. So sagt, als Ruth meint, Wale entdeckt zu haben, ein zackiger Achtzigjährier: „Nein, gute Frau, das sind Inseln.“
Wenn das Schiff in den Hafen einfährt, ist dies ein besonderes Ereignis. Viele stehen auf der Reling und werden von den Einheimischen vom Pier aus begrüßt. So sind zwei Kindergärtnerinnen mit ihren Zöglingen gekommen, um dem Schiff zuzuwinken. Die eine Kindergärtnerin ist eine Schwarze und einige Kinder stammen offenbar aus Afrika. Oder zwei Teenagermädchen singen mit beachtlich lauter und guter Stimme Volkslieder und Popsongs, sich auf einer billigen Zigarrenkistengitarre begleitend und haben einen Hut vor sich aufgestellt. Sie werden von drei Jungens auf ihren Mountainbikes umrundet, als ob sie ihre Bewacher oder Zuhälter wären. Vorne am Kai steht ein Mann und fischt und fotografiert das Schiff, als es wieder herausfährt. Das Schiff allein zu verlassen, erscheint vielen zu gefährlich. Deshalb werden die Zauberschifffahrer von Guides erwartet. Sie erzählen ihnen vom Leben auf dem Land, als wäre es ein fremder Erdteil oder der Mond. Dann kommen die Zauberschifffaher zurück und können glücklich so seltsame Dinge erzählen wie zum Beispiel, dass die Norweger in Tunnels Kreisverkehre haben. Die größte Gefahr des Landausflugs besteht darin, das Ablegen des Schiffes zu verpassen. Der Kapitän wartet nämlich nicht auf unpünktliche Gäste.
Dann gibt es Zauberschifffahrer, die nur eine kurze Zeit mitfahren und eigentlich die Harmonie stören. Insbesondere ein Radfahrer erzählt, dass er nur widerwillig auf dem Schiff ist. Wenn er die Berge sieht, dann würde er ihnen am liebsten auf seinem Rad entlangfahren. Er würde lieber nicht in der engen Kabine, vielmehr in seinem Zelt nächtigen. Aber auch er ist dem Alltag entflohen, hat für drei Monate eine Auszeit, ein Sabbatical genommen, seine Frau zu Hause gelassen und ist mit dem Fahrrad durch ganz Norwegen, bis hinauf nach Kirkenes gefahren. Oder das Paar aus Stuttgart, das mit seinem SUV bis zu der Lofoten-Insel gefahren ist, ein Abenteuer der Geduld, wie er betont, da er fast nie schneller als 50 km/h fahren durfte, und der Logistik, da es auf der Insel, wo sie eine Hütte gemietet haben, keinen Supermarkt gab, gar nicht zu reden von einem Restaurant. Diese Tagesgäste bringen etwas Welterfahrung auf das Schiff, die aber eigentlich nicht willkommen ist. Die Zauberschifffahrer versuchen vielmehr, die Möglichkeit einer Insel zu erfahren, wie dies Michel Houellebecq in seiner Geschichte über Lanzarote beschrieben hat. Und eine Insel möchte sich abgrenzen, was am besten durch das unendlich weit scheinende Meer geht. Das Paradies soll doch niemand stören.
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